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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
Autoren: Colin Cotterill
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Vegetabilien und fliegenstarrendem Büffelfleisch eine Mahlzeit zusammenzustoppeln, ließ Dtui die Trauer über den Tod ihrer Mutter rasch vergessen.
    Nur Dr. Siri war heute zur Arbeit erschienen. Da er das Gros der Bestattungskosten übernommen hatte, war er auf sein bescheidenes Monatssalär dringend angewiesen. Und so machte er sich eher lustlos an die Obduktion der verstümmelten Leiche des Blinden. Nicht lange, und ihm wurde klar, dass er seine Arbeit ohne seine beiden Sektionsassistenten niemals hätte verrichten können. Nicht nur fehlten ihm die knappen, präzisen Notizen und scharfsinnigen Beobachtungen Dtuis. Ihm fehlte auch Herr Geung (der sich momentan von einer lebensbedrohlichen Begegnung mit einer Stechmücke erholte), ein wahrer Meister im Umgang mit Leichen, der jeden Knochen scheinbar mühelos durchsägte. Am späten Nachmittag sank Siri erschöpft auf einen Hocker neben dem Toten. Irgendwie war es ihm gelungen, die sterblichen Überreste des Mannes in einen der nagelneuen roten Leichensäcke aus PVC zu stopfen, mit denen die Sowjetunion sie großzügig versorgt hatte.
    Nun brauchte er nur noch den Totenschein auszustellen und die Familie des Verstorbenen ausfindig zu machen, damit sie verständigt werden konnte. Siri war eben dabei, die Kleider des Toten nach etwaigen Hinweisen zu durchsuchen, als ein gut aussehender Mann von Mitte vierzig den Sektionssaal betrat. Sein schlanker Wuchs und seine gepflegte Erscheinung deuteten darauf hin, dass er auf sein Äußeres sehr bedacht war, sein zerschlissenes Hemd zeugte vom Gegenteil.
    »Nichts Passendes dabei?«, fragte er Siri.
    »Ah, Phosy. Der einzige Hauptstadtpolizist jenseits des Flegelalters. Wie geht es Ihnen?«
    »Ich bestehe zwar nur noch aus Haut und Knochen, kann aber ansonsten nicht klagen. Und selbst?«
    »Blendend. Einfach blendend.« Siri streifte einen Gummihandschuh ab und streckte seinem Freund breit grinsend die Hand hin. Inspektor Phosy schlug freudestrahlend ein. »Was führt Sie in meine Pathologie?«, fragte Siri.
    »Ihr Verkehrsunfall. Was sonst?«
    »Warum? Ich dachte, Sie ermitteln ausschließlich in Staatsangelegenheiten.«
    »Stimmt. Und die fragliche Waffe war doch ein Holztransporter der Armee, oder?«
    »Ja, schon. Aber es deutet eigentlich nichts auf ein Verbrechen hin, wenn Sie das meinen. Sie könnten den Chauffeur natürlich wegen Fahrlässigkeit belangen, nur hat der den Unfallort fluchtartig verlassen und ist seitdem spurlos verschwunden. Der arme Kerl macht sich wahrscheinlich in die Hosen vor lauter Angst, dass er hingerichtet werden könnte. Wenn mich nicht alles täuscht, war das Gaspedal verklemmt. Sie sollten vielleicht eher die Chinesen verklagen, weil sie uns für teures Geld ihren ausrangierten Militärschrott andrehen.«
    »Gute Idee. Was ist mit dem Opfer?«
    »Ein Blinder. Keine Ahnung, woher.«
    »Standen in seinem Hemdkragen denn nicht Name und Adresse, nur für den Fall, dass er verloren geht?«
    »In Blindenschrift? Fehlanzeige. Aber er hatte das hier bei sich.« Siri hielt einen beigefarbenen Umschlag in die Höhe. Die Adresse lautete: »Hr. Bounthan, Hauptpostamt Vientiane, Postfach 53, Präfektur Vientiane.« Die Briefmarke war zwei Mal gestempelt worden: einmal vor sechs Tagen in Pakxe – der größten Stadt des Südens – und einmal tags zuvor in Vientiane.
    »Na prima«, meinte Phosy. »Circa dreißig Prozent der männlichen Bevölkerung heißen mit Vornamen Bounthan, und einen Nachnamen scheint der Gute nicht gehabt zu haben.«
    »Nicht besonders hilfreich, was?«
    »Werfen wir doch mal einen Blick hinein.«
    Siri schlitzte den Umschlag mit einem Skalpell auf und zog einen Bogen Papier daraus hervor. Er war weiß, liniert und in der Mitte säuberlich gefalzt. Siri faltete ihn auseinander und starrte auf das Papier.
    »Merkwürdig«, sagte er.
    »Was steht denn drin?«
    »Nichts.«
    »Gar nichts?«
    »Sehen Sie selbst.«
    Phosy hielt das Blatt mit spitzen Fingern hoch und unterzog beide Seiten einer eingehenden Inspektion. Es war leer.
    »Und?«, fragte Siri.
    »Kein Wunder. Der Mann war schließlich blind.«
    Siri lachte. »Ah, an Ihnen ist ein echter Meisterdetektiv verloren gegangen.«
    »Also gut. Warum sollte sich jemand die Mühe machen, einem Blinden ein leeres Blatt Papier zu schicken?«
    »Es muss für den Verstorbenen von besonderer Bedeutung gewesen sein. Moment mal. Es wird doch nicht …?« Er nahm Phosy das Papier aus der Hand und hielt es sich unter die Nase. Er schnupperte
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