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Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt

Titel: Briefe an einen Blinden - Dr Siri ermittelt
Autoren: Colin Cotterill
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hätte das neue sozialistische Regime die Gelegenheit nutzen können, um die leidgeprüfte Bevölkerung vom Joch der Bürokratie zu befreien. Die Pathet Lao waren 1975 an die Macht gekommen, und selbst der Premierminister musste zugeben, dass sie seitdem nicht allzuviel zustande gebracht hatten. Stattdessen versuchte die dschungelerprobte Regierung, ihr Unvermögen dadurch zu verschleiern, dass sie das Volk mit immer neuen Vorschriften und Gesetzen drangsalierte. Wer von einer Präfektur zur anderen radeln wollte, musste sage und schreibe sechs Unterschriften einholen. Wenn ein Stück Nutzvieh starb, und sei es eines natürlichen Todes, musste dies schriftlich gemeldet werden. Und Gott gnade einer Familie, die ihre armselige Hütte durch einen Anbau erweitern wollte. Für den entsprechenden Papierkram mussten ein kleiner Wald und ein ausgewachsener Tintenfisch dran glauben.
    Etwa fünfzigtausend ehemals royalistische Beamte saßen in Umerziehungslagern, und die Positionen, die sie einst bekleidet hatten, waren entweder vakant geblieben oder mit Parteikadern besetzt worden, denen die erforderliche Qualifikation für ihre Arbeit fehlte. Sie alle taten ihr Bestes, doch das Beste ist eben nicht immer gut genug.

2
DIE STRASSENWAHRSAGERIN
    Dr. Siri Paiboun, der erste und einzige Leichenbeschauer des Landes, saß in der Pathologie und rollte einen Hoden zwischen Daumen und Zeigefinger. Es war ein eigenartiges Gefühl. Er hielt ihn ans Licht und fotografierte ihn. Dann legte er ihn neben seinen Genossen auf den Tisch und machte noch einen Schnappschuss von dem trauten Paar.
    »Wissen Sie was? Das sind wahre Wunderwerke der Natur«, sagte er.
    »Inwiefern?«
    Schwester Dtui kramte hektisch in ihrer Schublade, auf der Suche nach einem geeigneten Behältnis für die beiden Testikel. Sie war eine hübsche Mittzwanzigerin mit einem hinreißenden Lächeln. In der blütenweißen Tracht, die sich um ihren voluminösen Körper spannte, sah sie aus wie ein überdimensionaler – wenn auch ausgesprochen gutgelaunter – Kühlschrank.
    »Sie wirken zwar eher unscheinbar«, sagte Siri, »aber die kleinen Kerlchen haben es buchstäblich in sich. Sie steuern sämtliche sexuellen Vorgänge im männlichen Körper. Sie schütten Testosteron aus, um Potenz und Zeugungskraft zu signalisieren und so das weibliche Geschlecht anzulocken, sie stimulieren eine Erektion und produzieren Spermien zur Befruchtung der Eizelle. Und trotz dieser gewaltigen Verantwortung haben sie noch nicht einmal einen Platz im Körperinnern. Sie sind bloße Anhängsel, zum Baumeln verdammt. Reichlich rücksichtslos von unserem Schöpfer, wenn Sie mich fragen.«
    »In frittierter Form werden die Dinger wohl keinen allzu großen Beitrag zum Fortbestand der Menschheit mehr leisten«, sagte Dtui und hielt lächelnd eine aus zwei Blättern zusammengeklammerte Papiertüte in die Höhe, die ehedem Bananenpuffer beherbergt hatte. »Das muss genügen.«
    »Sie scheinen es ja ziemlich eilig zu haben, Schwester Dtui.«
    »Heute ist Mittwoch. Ich darf den Termin bei meiner Wahrsagerin auf keinen Fall verpassen.«
    »Sollten Sie sich nach Feierabend nicht eher um die Gemüsebeete im Klinikgarten kümmern oder anderweitig zum Wohl der Republik beitragen?«
    »Dazu ist auch nach meiner Sitzung noch Zeit. Sie dauert höchstens eine halbe Stunde.«
    »Sie enttäuschen mich, verehrte Dtui. Sie glauben doch nicht ernsthaft an diesen Hellseher-Humbug?«
    »Das müssen Sie gerade sagen.«
    »Wie soll ich das verstehen?«
    »Wenn ich kurz zusammenfassen dürfte: ein Mann, in dessen Körper ein tausend Jahre alter Hmong-Schamane wohnt, ein Mann, der von bösen Waldgeistern verfolgt wird, ein Mann, der regelmäßig Besuch von den Geistern der Ermordeten bekommt …«
    »Der Herr scheint ja ein echter Teufelskerl zu sein.«
    »… ein Mann, in dessen magischem Schandmaul sich Stücker dreiunddreißig Zähne drängen, was zweifelsfrei beweist, dass er mit der Geisterwelt sozusagen auf dem Duzfuß steht, dieser Mann also hält Hellseherei für Humbug?«
    »Allerdings. Barer Unfug. Die Zukunft ist wie ein Pickel auf unserer Nasenspitze. Egal wie schnell wir laufen, wir holen sie doch niemals ein. Schon der Versuch ist zwecklos.«
    »Das klingt aber verdächtig nach einer von Richter Haengs Parteilosungen.«
    »Mitnichten. Das ist ganz allein auf meinem Mist gewachsen. Niemand kann in die Zukunft sehen. Diese Scharlatane erzählen leichtgläubigen Trotteln, was sie hören wollen, und verdienen sich
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