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Brans Reise

Titel: Brans Reise
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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kratzt sich am Kinn. »Nun«, sagt er, »die Geschichte, die ich dir heute Abend erzählen will, handelt nicht von ihm. Wie du siehst, ist er die erste Gestalt, die hier eingemeißelt worden ist, und sie ist nie wieder abgebildet worden. Ich sage immer, dass alles mit ihm begann, und dann fahre ich fort. Hier… Und da…« Er deutet auf die Zeichen neben dem Vogelmann. »Und wir fangen hier an, mit Bran.«
    Shian starrt auf eine Reihe von Hütten, in denen Figuren stehen, die wie Menschen aussehen.
    »Brans Seereise«, sagt der Alte mit einem Nicken. »Die Geschichte von dem Träumer und dem Häuptling, der unser Volk auf das Meer hinausführte. Dem Mann der Berge, aus dem ein Seemann wurde. Dem Jäger, aus dem ein Krieger wurde. Seine Geschichte handelt von Unfrieden und Schmerzen. Denn Schwert und Blut begleiteten ihn auf seinem Weg, und der Schmerz lebte in ihm bis zu seinen letzten Tagen hier in diesem Tal. Aber komm jetzt, setzen wir uns, während ich erzähle. Diese Zeichen kenne ich ebenso gut wie ein Vogel sein Lied.«
    Er klopft Shian auf den Rücken und fordert ihn auf, mitzukommen. Sie hatten ganz am Ende der Höhle gestanden, wo die Decke bis dicht über ihre Köpfe hinabreichte. Jetzt gehen sie langsam zur breiten Westöffnung hinüber, von der aus man das Tal überblicken kann. Sanfte, grasbewachsene Berghänge flachen zum Talboden hinab, einzig unterbrochen von der steinigen Narbe des Pfades, der zur Höhle emporführt. Der alte Mann und der Junge setzen sich an den Rand der Höhlenöffnung und blicken auf den Wald und den Fluss hinunter, der sich wie eine tief schwarze, glänzende Schlange zwischen den Bäumen hindurchschlängelt. Die ersten Bäume stehen nur ein paar Steinwürfe unter ihnen. In den nächtlichen Himmel steigen an manchen Stellen schmale Rauchsäulen aus den Lichtungen empor. Der Alte schaut zum Himmel auf, atmet den Geruch von Wiesenblumen und Abendtau ein und denkt, dass es eine gute Nacht ist, um zu erzählen.
    »Willst du denn nicht bald anfangen?« Shian legt sich wieder den wollenen Umhang um.
    Der Alte seufzt und zieht seinen Gürtel etwas zur Seite, so dass das wuchtige Schwert auf dem Boden aufliegen kann.
    »Ihr Jungen seid so ungeduldig. Kannst du nicht einfach einmal still sitzen und den Sommer genießen?«
    »Vater hat gewollt, dass ich hierher komme. Sonst hätte ich mit Kilak und den anderen ausreiten können.«
    »Reiten, ja… Ihr werdet wohl auf dem schnellsten Weg hinauf zum Nordpass reiten, um dort die Mädchen aus Kragg-Nar zu treffen.«
    »Nein…« Shian sieht weg. »Für gewöhnlich reiten wir zum See hoch und fischen.« Der Alte sieht zu ihm hinunter. Das Gesicht des Jungen ist rot geworden. Er ist ja schon noch ein bisschen jung, um den Mädchen hinterherzusteigen, denkt der alte Mann. Aber jetzt hört er wenigstens für eine Weile auf zu nörgeln.
    »Bran war ein guter Mann«, sagt er, bevor ihn wieder der Husten übermannt. Er beugt sich vor und räuspert sich. Dann holt er tief Luft und fährt fort. »Das musst du wissen, aber trotzdem hat er auf seinem Weg viel Böses getan. Seinen Feinden muss er wie der Gesandte eines bösen Gottes erschienen sein. Aber ich will ihn nicht für die Entscheidungen verurteilen, die er treffen musste. Ich will seine Geschichte erzählen und bitte die Winde, mir die richtigen Worte in den Mund zu legen.«
     
    Regen peitschte über den Strand. Der Mann, der sich dort gebeugt vorwärts kämpfte, kniff die Lider zusammen und starrte noch einmal aufs Meer hinaus. In seinen Augen glichen die Wellen Felsvorsprüngen, schneebedeckten Klippen, die ruhelos auf- und abstiegen. Sie waren zu hoch, als dass er die kleine, kahle Insel hätte sehen können, doch er wusste, dass sie dort draußen lag. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie oft er seine Armzüge bis dorthin gezählt hatte.
    Der Sand unter seinen Füßen war kalt und erinnerte ihn daran, dass er sich mit jedem Schritt dem Wasser näherte. Er schloss die Augen und lauschte den Stimmen des Windes. Sie waren ihm nicht gnädig gesonnen. Jetzt spürte er die Wellen. Noch einen Schritt trat er vor. Das Wasser zog sich wieder zurück und spülte den Sand unter seinen Füßen weg. Er blieb stehen und öffnete die Augen. Das Meer hob und senkte sich und schoss nach vorn. Er taumelte nach hinten, als die Wellen ihm die Beine unter dem Körper wegzufegen drohten, und baute sich breitbeinig im Wasser auf. Als er sich zur Seite drehte, packte der Wind seine Haare und entblößte die
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