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Brans Reise

Titel: Brans Reise
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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und die Schmerzen kletterten in seinem Nacken nach oben. Die Klauen schlugen sich in den oberen Rand seiner Augenhöhlen. Sein rechtes Augenlid wurde schwer und schläfrig und er wusste, dass es lange dauern konnte, ehe die Klauen ihn wieder freigaben. Er verfluchte den Vokker, der ihm mit seiner Keule in den Nacken geschlagen und ihm diese unablässigen Schmerzen beigebracht hatte. »Du musst lernen, damit zu leben«, pflegte Turvi zu sagen. »Sieh mich an. Dort sollte ein Bein sein, doch stattdessen muss ich mit einer Krücke herumhumpeln.« Bran wusste, dass er sich nicht beklagen konnte. Und was war seine Verletzung im Vergleich zu der, mit der Noj gerungen hatte?
    Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er, wenn er an Noj dachte, wie an etwas Vergangenes dachte. War es wirklich so leicht zu begreifen, dass er tot war? Sie alle hatten darauf gewartet. Als die Vokker sie draußen auf der Ebene angegriffen hatten, hatte Noj einen Schlag auf den Kopf bekommen. Beim Erwachen hatte er derart starke Schmerzen, dass er nicht wusste, wo er war. Danach war der Häuptling immer dünner und dünner geworden, bis die Schmerzen den alten Mann schließlich in einen Krüppel verwandelt hatten. Ein Jahr später war er fast blind und zu schwach gewesen, um sich zu erheben. Es war gut, dass er endlich seine Ruhe gefunden hatte.
    Bran kam auf die höchste Stelle der Düne und blickte über den Strand. Der gelbe Sand erstreckte sich etwa zwei Steinwürfe weit nach vorn, bis er das Wasser erreichte, wo ein dunkelgrüner Tanggürtel in der Brandung auf und ab schwappte. Am südlichen Ende des Strandes sah er die Klippen. Dort begann das Land der Kretter und dort lag der so gefürchtete Blutsund.
    Im Norden ging der Strand etwa einen Pfeilschuss entfernt in einen Buchenwald über, der seine Äste in die Wellen tauchte. Er sah die gelben Stümpfe der Bäume, die sie gefällt hatten, und die Furchen im Sand, über die sie die Stämme bis zu den Feuern gezogen hatten. Bran wischte sich die Regentropfen weg, die über seine Stirn hinabrannen. Die drei Spitzbugschiffe lagen nur einen Steinwurf zu seiner Rechten im Sand verankert. Die Segel waren um den Baum geschlagen und die Ruderdollen ragten wie weiße Zähne aus dem vom Meer blank gescheuerten eichenen Dollbord heraus. Direkt unterhalb von ihm lagen die neuen Rümpfe. Sie glichen gestrandeten Walen. Die Männer standen um sie herum und bogen die letzten Planken zurecht. Nosser hämmerte Holznägel fest, während Kaer und der kleine Vord mit ihren Speeren Löcher in die Kielbalken bohrten, um Platz für die Bolzen zu schaffen. Die anderen pinselten die Rümpfe mit Harz ein. Sie hatten sie den Spitzbugschiffen nachempfunden, denn die alten Fischerboote hatten Sturm und Wellengang überstanden. Zwei Jahre lang hatten sie dafür gebraucht, die acht Rümpfe zu bauen, denn nur fünfzehn Männer hatten den Angriff der Riesen überlebt, fünf weitere hatten an der Ostküste überwintert. Er erinnerte sich noch an die Tränen, als sie endlich hierher kamen, das Weinen der Frauen, die mit einem Mal erkannten, dass sie Witwen geworden waren, und das Schluchzen der Kinder, die nach ihren toten Vätern schrien. Später schmolz der Schnee und die fünf von der Ostküste kamen herübergesegelt, bloß um Worte über Brüder zu hören, die nicht mehr am Leben waren.
    Jetzt saßen die Frauen im Kreis um das Lagerfeuer herum und nähten die Segeltücher fertig, die die Kaufleute im letzten Sommer hierher gebracht hatten. Die Karawane hatte viele Pferde gebraucht, um die Lasten schleppen zu können. Sie hatten zwei gute Tiere für jede Mastlänge Segeltuch verlangt. Nojs Männer hatten den Händlern ihre Pferde überlassen, bloß damit sie noch mehr Segeltuch aus Krett holten. Und später, als alle Bolzen in den Schiffsrümpfen saßen, waren sie mit großen Tonnen zurückgekehrt und hatten die restlichen Tiere für das Harz eingefordert.
    Turvi hatte am Feuer gestanden und die Arbeit verfolgt, doch jetzt bemerkte er, dass Bran ihn beobachtete. Der Einbeinige hob seinen Arm. Die Männer hörten auf zu hämmern. Sie legten die Planken zu Boden und stießen ihre Speere in den Sand. Die Frauen riefen die Kinder zu sich und hielten sie fest. Turvi nickte vor sich hin, bevor er zu den Wolken emporblinzelte. Bran wusste, was er dachte. Die neue Zeit hatte begonnen.
     
    Die Männer des Felsenvolkes begruben Noj unter einem Berg von Steinen, die die Wellen rund geschliffen hatten. Bran achtete darauf, dass Noj nach
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