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Brans Reise

Titel: Brans Reise
Autoren: Andreas Bull-Hansen
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gebeten hatte. Die Finger des Häuptlings suchten seine Augen, und er verzog seine Lippen zu einem mühevollen Lächeln.
    »Du bist ein guter Mann«, flüsterte er. »Ich wünschte, ich hätte einen Sohn wie dich.«
    Noj fasste um seine Schulter. Er befühlte Brans Arme und dessen Brust.
    »Du bist stark, Sohn. Ich spüre das Blut unter deiner Haut.« Er wandte seinen Blick zum Dach der Hütte. Bran wusste, dass Noj im Dunkel der Hütte kaum etwas sehen konnte. Nach dem Schlag war die Sehfähigkeit des Alten immer schlechter geworden und seit dem letzten Herbst war er fast blind.
    »Ich war immer ein Mann der Berge«, sagte Noj hustend. »So ist es noch immer. Hilf mir deshalb nach draußen, Bran. Halte mich so, dass ich die Lanzenberge sehen kann, wenn ich sterbe!«
    Viani öffnete den Mund und begann zu schluchzen. Bran hatte sie noch nie zuvor weinen sehen. Während der ganzen Zeit hatte sie hier gesessen und ihren Mann gepflegt und niemals Zeichen der Trauer gezeigt. Doch jetzt war auch das bald vorbei, dachte Bran und legte seinen Arm hinter Nojs Rücken. Viani zog den Pelz zur Seite, der auf seinen Beinen lag und half ihm die Knie zu beugen, so dass Bran seinen Arm darunter schieben konnte. Dann hob er den alten Mann an und ging gebeugt auf die Öffnung der Hütte zu. Viani krabbelte nach draußen, hob das Türfell an und Bran kroch mit Noj auf seinen Armen heraus.
    »Ich spüre den Sturm«, flüsterte Noj. »Komm, Viani. Halt meine Hand!«
    Viani ergriff seine zitternden Finger und umarmte ihn.
    »Dreh mich in Richtung der Berge, Bran!«
    Bran trat ein paar Schritte von der Hütte weg, um einen freien Blick auf das Gebirge zu bekommen. Noj lag leicht wie ein Kind auf seinen Armen. Viani legte ihren Arm an den ihres Mannes und deutete auf die Berge.
    »Da«, sagte sie. »Siehst du sie? An den Hängen ist noch immer Schnee!«
    »Schnee…«
    Bran sah auf ihn herab. Der alte Mann lag da und starrte auf die Berge, während seine Faust Vianis Hand umklammerte.
    »Wir haben so viele Winter gemeinsam erlebt. Und… so viele… Sommer…«
    Bran spürte, wie die letzten Kräfte aus Noj entwichen, wie der magere Körper auf seinen Armen zusammensank. Er versuchte, ihn zu drehen, damit er weiterhin die Berge sehen konnte, doch die Augen des Alten sahen in den Himmel. Viani drückte ihr Gesicht an seinen Hals und tröstete ihn, als der letzte Sturm durch seinen alten Körper raste. Dann schlossen sich seine Augen wieder und Bran wusste, dass er tot war.
     
    Bran legte Noj ins Gras und ließ Viani mit ihm allein. Er wandte sich zum Meer und ging wieder auf die Dünen zu. Er wusste nicht, ob er weinte, denn der Regen klatschte ihm noch immer, vom Wind gepeitscht, ins Gesicht. Die Trauer in seinem Inneren war etwas, was er noch nie zuvor verspürt hatte. Er hatte auf das kalte Gefühl in seiner Brust gewartet, das gekommen war, als Vater in dem Kampf getötet worden war. Aber eine derartige Trauer spürte er jetzt nicht. Zuallererst fühlte er sich einsam. Er hatte niemanden, nicht einmal einen Häuptling. Denn er selbst sollte jetzt die Geschicke des Felsenvolkes leiten. Nach Süden führte der Kurs, den er im Traum gesehen hatte, vorbei am Blutsund und an Krett und dann hinein in die tuurischen Gewässer. Niemand verstand, warum Kragg ihn einen solchen Traum hatte träumen lassen, nicht einmal er selbst. Welche Zukunft sollten sie dort unten finden? In den Träumen von Velar und Hagdar hatten sie andere Kurse eingeschlagen, in Richtung von Ländern, die sie kannten. Er fragte sich, warum die Menschen gejubelt hatten, als er als Sieger aus dem Schwimmen hervorgegangen war. Es gab keinen Grund dafür, denn sein Kurs würde Krieg über sie bringen.
    Bran sah sich um. Viani hatte sich über Noj gebeugt. Der Regen prasselte auf sie herunter. Bran ging zum Bach hinunter und folgte ihm in Richtung Dünen. Er wollte nicht, dass sie so dasaß. Er musste Turvi holen, denn der vermochte so gut zu trösten. Noj musste begraben werden, und das würde Brans erste Amtshandlung als Häuptling sein. Er würde Steine vom Strand holen und einen Berg über Noj aufrichten, der nach Westen ausgerichtet war, auf dass er immer die Berge sehen konnte, die sein Volk verließ.
    Während er zwischen den Graspolstern die Dünen emporkletterte, packten ihn wieder die unsichtbaren Krallen. Ein paar Tage schon hatte er nichts gespürt, doch nach den Anstrengungen in den Wellen konnte er nichts anderes erwarten. Es begann, in seinen Ohren zu pfeifen,
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