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Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Titel: Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
Autoren: Ulf Meyer zu Kueingdorf , Michel Ruge
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für mich die große Freiheit. Alleine, mein Ding durchziehen. Das war Urlaub!
    Die Schule war ein fremder Raum für mich. Sie war ein Gefängnis, in dem man nichts fürs Leben auf der Straße lernte. Wenn ich mit der Morgenlatte, die verzweifelt versuchte, sich einen Weg durch meine Jeans ins Freie zu bahnen, im Unterricht saß, hatte ich die ganze Zeit dasselbe im Kopf wie mein Pimmel: raus hier! Nach der letzten Stunde rannte ich los – der Himmel über mir, der Wind im Gesicht.
    Ich war ein sehr mittelmäßiger Schüler. Hausaufgaben machte ich nie (wo hätte ich die Zeit hernehmen sollen?), was irgendwann auch den Lehrern klar zu sein schien. Zu Hause kontrollierte eh niemand, ob ich lernte oder nicht. Anfangs hatte ich mich noch auf die Schule gefreut, aber schon bald merkte ich, dass sie mich nicht interessierte. Mich interessierte das Leben auf St. Pauli. Nicht irgendein unnützes Wissen. Die Leute im Kiez schlugen sich durchs Leben, sie arbeiteten irgendwas, drehten irgendwas. Nichts davon stand auf dem Lehrplan. Und für das, was ich werden wollte, brauchte ich weder Differenzialrechnung noch eine Ahnung von den Punischen Kriegen. Ich wollte Zuhälter oder Ganove werden. Das waren glamouröse Jobs. So stellte ich mir das als kleiner Junge zumindest vor. Die Luden führten ein tolles Leben. Sie trugen teure Anzüge, waren wie italienische Gigolos behangen mit Rolex, Goldketten und Ringen. Sie hatten lange, lockige Haare und immer ein paar tausend in der Tasche. Sie bestimmten, wo es langging.
    Aber ab und zu ließ ich mich doch in der Schule blicken. Bei den Normalbürgern. Denn für die war die Schule. Dort wurden die Normalbürger auf ihr normales Leben vorbereitet. Jungs wie ich lernten auf der Straße. Das Leben war unsere Schule. Für den Normalbürger waren wir Underdogs. Das aber gefiel mir. So wollte ich gesehen werden: ein Underdog. Ich wollte anders sein. Dafür war ich bereit zu kämpfen.
    Nur der Sportunterricht in der riesigen Halle machte mir zuweilen Spaß. Meine stinkenden Socken, die ich seit Tagen trug, meine schon ewig ungewaschenen Sportsachen – das hielt mich nicht davon ab, zumindest hin und wieder zum Sport zu gehen. Es war die Zeit von Ronald Reagan, von Rambo und von den Grünen. Es war die große Zeit der Underdogs, der Einzelkämpfer, der Helden, die sich gegen das System auflehnten und dann später selber zum System wurden. In dieser Zeit wurde ich groß. Aber bis auf Rambo ging mir der ganze Kram am Arsch vorbei.
    Als ich zehn Jahre alt war, kam ich auf die Bruno-Tesch-Gesamtschule, unweit der Reeperbahn. Die Mädels dort waren wild und knutschten miteinander, schon lange bevor Madonna und Britney Spears das auf der Bühne taten. Ich wusste: Hier wehte ein anderer Wind als auf der Grundschule. Hier musste ich gleich zeigen, wer die Schelle hat, wenn ich nicht ganz unten in der Hierarchie landen wollte. Es ist immer besser, gleich am Anfang den Harten zu machen, bevor die anderen auf die Idee kommen, einen stetig auszutesten und zu piesacken. Also machte ich in den Pausen Kung-Fu-Übungen, die ich aus Filmen kannte. Die Kranichstellung und die Tigerkralle konnte ich schon recht gut, wie ich fand. Ich hatte mir das alles selbst beigebracht. Seitdem ich denken kann, fühle ich mich zum Kampfsport hingezogen. Später wurden die Sonntagsvorstellungen im Aladin-Kino auf der Reeperbahn zu meinem Unterricht. Meine Oma kannte den Besitzer des Kinos, und so durfte ich mir dort auch die ganz harten Filme anschauen. Zu jener Zeit waren Kung-Fu und Karate noch so neu in unserer Welt, dass niemand wusste, ob sie wirklich etwas taugten – im harten Kampf auf der Straße. Als ich anfing, belächelte man mich noch. Aber das war mir egal. Ich trat und schlug weiter während der Pausen in die Luft und machte dabei ein sehr böses Gesicht. Immerhin, es war das erste Mal, dass meine Eltern sich Gedanken über mich zu machen schienen, denn sie schickten mich mit Verdacht auf ADHS zur Kur.
    Der Schule begegnete ich mit demonstrativer Gleichgültigkeit. Auf der Gesamtschule gab es einige linke Lehrer, die ein Herz für Underdogs wie mich hatten. Immer wieder versuchten sie, mich aus der Reserve zu locken und zu fördern. Aber Erfolg hatten sie damit nicht. Ganz im Gegenteil. Mehr und mehr schwänzte ich. Meinen Ranzen versteckte ich unter Treppen, in Hinterhöfen und zog durch St. Pauli, klaute Platten und Klamotten und hing auf der Straße ab.

    Ich war gerade ein Jahr auf der Bruno Tesch, als
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