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Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Titel: Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
Autoren: Ulf Meyer zu Kueingdorf , Michel Ruge
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tatsächlich vergessen, weil sie kein Bock mehr auf mein Geschnatter hatte. Aber ich war fest entschlossen. Ich wollte Kung-Fu!

    Das Taiyo Sportcenter war damals die bekannteste der Kampfsportschulen auf St. Pauli. Als Belohnung dafür, dass ich weiterhin so hartnäckig meine Mutter genervt hatte, bekam ich tatsächlich eine Jahresmitgliedschaft geschenkt – zu Weihnachten. Und einen Karateanzug. Ich war überglücklich. Die Mitgliedschaft kostete damals fünfzig Mark im Monat. Das war viel Geld für meine Eltern. Kalle war dafür sogar über seinen eigenen Schatten gesprungen, was so gut nie vorkam. Wenn ich ihm vom Kung-Fu erzählte, meinte er nur: »Michel, kanns du nich Boxen lernen? Was ’n das für ’n Schwachsinn mit diesem Kung-Fu? Beim BC Sportmann war ich früher auch, und da zahlst du nur sechs Mark im Monat!« – »Joaa, ich weiß«, spulte ich meine immer gleiche Antwort ab. »Aber ich will ja auch treten lernen. Was macht ’n Boxer, wenn da einer kommt und ihn tritt?« Obwohl Kalle es sicherlich besser wusste, schwieg er.
    Das Taiyo Sportcenter befand sich in der Stresemannstraße und wurde von Herrn Täubrich geführt. Täubrich war einer der Judo-Pioniere in Deutschland, ein untersetzter, starker Mann mit dunklen Haaren und einem eckigen Gesicht. Er konnte recht aufbrausend sein. Aber er war ein Herz von einem Menschen. Vor allem für uns Kinder tat er viel. In seinem Porsche nahm er mich oft zu den Judo-Wettkämpfen mit. Er wollte mich überreden, Judo zu machen. In meiner Unwissenheit hielt ich Judo damals für harmlos, einen Sport für Weicheier. Ich war eben der Meinung, dass man sich richtig hauen müsse, wenn es ums Kämpfen ging. Ringen konnte ich ja schon ganz gut. Das hatte ich jahrelang auf diversen Schulhöfen geübt. Im Tayo begann ich schließlich mit Shotokan-Karate. Aber das wurde mir bald zu langweilig. Ich wechselte schließlich zu meiner Traumsportart: dem Kung-Fu. Ich trainierte fast jeden Tag wie ein Verrückter.
    Die Disziplin und der Fleiß, die beim Training abverlangt wurden, beeinflussten mich positiv. Die Kultur des Kung-Fu gab mir Halt im Leben, und für meine Träume gab sie mir eine gewisse Schwerelosigkeit. Das intensive Training brachte mich nach dem Überfall wieder auf die Spur. Auf dem Kiez war es wichtig, so etwas wie Kampfsport zu können. In anderen Gegenden war es wichtig, ein gutes Abitur zu haben. Hier aber half einem ein Durchschnitt von 2,0 nichts, wenn man einem Typen gegenüberstand, der seinen Standpunkt ausschließlich mit einer geraden Rechten vertrat.

5 Kinder von St. Pauli!?
    F ür mich gab es nur einen Grund, zumindest ab und zu in die Schule zu gehen. Dieser Grund hieß Claudia. Ich begehrte sie. Ich liebte sie. Sie saß direkt vor mir. Claudia war die Anführerin der Mädchen von St. Pauli. Immer wenn ich auch nur in ihrer Nähe war, vergaß ich alles um mich herum. Allein der Anblick ihres Rückens und ihres vollen, dunklen Haares machte mich wahnsinnig. Was für eine Frau! Eine Frau, wie ich sie mir wünschte. Die ich aber niemals bekommen sollte. Claudia war keine Frau, die man erobern konnte und die einem dann ein Leben lang dankbar und treu an der Seite blieb, ohne dass man sich weiter bemühen musste.
    Mit fünf bin ich Claudia zum ersten Mal begegnet. Auf dem Spielplatz am Paulinenplatz. Es war Winter, und der Hügel, den es auf dem Spielplatz gab, war mit Schnee bedeckt. Ich hatte einen Schlitten, mit dem ich den Hügel hinunterrodelte. Als ich mal wieder am Fuße des Hügels gelandet war, kam ein kleines Mädchen auf mich zu. Es war eingepackt in eine dicke rote Jacke. Mir fielen sofort seine wunderschönen blauen Augen auf, die so weit auseinanderstanden. Auf der Nase hatte es eine kleine Narbe. »Darf ich auch mal?«, fragte es in einem sehr bestimmten Ton und zeigte auf meinen Schlitten. Mit seinen kleinen, feurigen Augen fixierte es mich. Ich hatte keine andere Wahl. Ich musste ihr meinen Schlitten geben. »Klar«, stammelte ich wie hypnotisiert. »Hier!« Ich gab ihr den Schlitten und beobachtete sie wie verzaubert. Sie stieg den Hügel hinauf, setzte sich auf den Schlitten und steuerte ihn so gekonnt und schnell den Hügel herunter, dass sie die anderen Jungs hinter sich ließ. Immer wieder stapfte sie den Hügel hinauf und schoss herunter. Ich stand unten und bekam den Mund nicht mehr zu. Was für ein Mädchen! Zwanzig Minuten stand ich regungslos da und beobachtete sie. Ich vergaß sogar die Kälte. Als sie wieder mal
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