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Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Titel: Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
Autoren: Ulf Meyer zu Kueingdorf , Michel Ruge
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meiner Körpersprache und in meiner Wortwahl geworden. Meine Leichtigkeit sei verschwunden. Mir war klar: Ich musste lernen, mich zu verteidigen. Gegen solche Typen, die älter, stärker und böser waren. Nie wieder wollte ich so ausgeliefert und hilflos sein. Dieser Gedanke setzte sich in mir fest. Er verfolgte mich. Ich wusste, was ich zu tun hatte.
    Ich begann, meine Mutter zu nerven. »Ich will Kung-Fu machen«, sagte ich. »Ich will Kung-Fu machen.« Wie genau ich auf Kung-Fu kam, weiß ich heute nicht mehr. Vielleicht wegen David Carradine und dessen Fernsehserie »Kung-Fu«. Später sicherlich wegen der Kung-Fu-Filme, die ich mir sonntags im Aladin ansah. All das reichte mir nicht mehr, es war an der Zeit für wirkliches Wissen und Können und hartes Training in den geheimen Techniken der asiatischen Kampfkünste. Doch bevor es so weit war, stand eine große Aufgabe bevor: Ich musste meine Eltern überzeugen. Außerdem gab es noch etwas, das mich in dem Glauben bestärkte, den Weg des Kämpfers gehen zu müssen.
    Feiertage waren immer langweilig. Ich streunte einfach durch St. Pauli, die Große Freiheit hinauf und hinunter. Zwischen den Kneipen und Oben-ohne-Bars. Einfach wunderbar. Ich brauchte kein Geld. Die großen Mädchen, die in Dessous und High Heels an den Bars saßen, riefen mich zu sich und gaben mir ’ne Fanta oder Perri aus. Sie kannten mich. Mit elf konnte ich ihnen noch unauffällig auf die Beine starren. Ganz ungeniert nuckelte ich am Strohhalm und studierte ihre Beine. Diese endlosen, übereinandergeschlagenen und in Netze oder feine Seide gehüllten Beine. Während ich ihre Beine bewunderte, fragten die Animiermädchen mich immer dasselbe: »Na, was macht die Schule? Bissu auch schön fleißig?« Dann lachten alle, und ich grinste schelmisch. »Schule?«, fragte ich ahnungslos. »Joaaa. Aber ich mach Kung-Fu.« Auch wenn ich mir die Tricks noch in den Filmen abschaute und selbst beibrachte, ich wusste, welchen Weg ich gehen wollte. Am liebsten hätte ich mit den Mädchen immer nur über Kung-Fu geredet. Irgendwann – ich war wieder mal zu einer Perri eingeladen worden – zeigte eines der großen Mädels mir ein Foto. »Hier, das bin ich, und das hier ist Karate Tommy. Der hat was auf’m Kasten.« Ich sah mir das Foto genau an. Ich sah einen sehr muskulösen, langhaarigen Mann, die Arme vor dem nackten, kräftigen Oberkörper verschränkt. Links und rechts von ihm je eine Schönheit. Super, dachte ich. So wollte ich werden – wie dieser Karate Tommy. Er hatte es geschafft. Er sah gut aus. Er war stark und er hatte Schlag bei den Frauen. Für mich war es wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Ich verließ die Bar, träumend. Es dämmerte, die Lichter der Großen Freiheit glitzerten. Ich hatte ein Ziel. Ich wollte der Prinz aus dem Märchen werden. Teure Autos, tolle Mädchen, tierische Muskeln. Ich würde hart trainieren, Schlägereien suchen und kein Pardon zeigen. Also nervte ich meine Mutter – jeden Tag. Ich quatschte ihr morgens, mittags und abends die Ohren von Kung-Fu voll. Anfangs ließ sie sich nicht beeindrucken. Ebenso wie Kalle, der das Ganze als lächerlich abtat. »Asiatische Kampfkünste? Pa!« Aber es kam der Tag, an dem ich meine Mutter knackte.
    Wir waren auf’m Kiez unterwegs. Wieder hatte ich sie den ganzen Tag genervt, als sie plötzlich stehen blieb und sagte: »Kannsu mal aufhören, mir ständig davon zu vatellen!« – »Joa, kann ich. Aber ich muss das lernen, damit mir nicht mehr so was passiert wie neulich« – »Ja, ich hab’s ja begriffen«, sagte sie genervt. »Ich will’s nicht mehr hören.« – »Okay, aber kann ich dich wenigstens einmal am Tag daran erinnern?« – »Ja, gut. Einmal am Tag darfst du darüber reden.« – »Okay, das is gut. Weissu, weil da lern ich echt Disziplin und …« Meine Mutter unterbrach mich und wurde laut. »Is jetzt mal gut? Ich hab’s ja begriffen!« Ich gab mich kleinlaut. »Okay, dann erzähl ich nichts mehr. Aber kann ich noch kurz erzählen, welche Stile es gibt?« – »NEIN!«, schrie meine Mutter. »Aber das is wichtig, weil …« – »NEIN!!!« Kurze Stille. Dann sprudelte es wieder aus mir heraus. »Darf ich aber noch ein kleines Ding sagen?« – »Was denn?«, fragte sie neugierig. »Guck ma, die Stile sind so unterschiedlich, da …« Sie drehte sich genervt um und ging. Ich stand da wie ein Trottel – mitten auf dem Schulterblatt. In beiden Händen Einkaufstüten. Die hatte meine Mutter
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