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Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Titel: Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
Autoren: Ulf Meyer zu Kueingdorf , Michel Ruge
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etwas passierte, was mein Leben verändern sollte. Wieder einmal hatte ich verschlafen. Ich würde also ohnehin zu spät zur ersten Stunde kommen. Also ging ich in den Park gleich neben der Schule, um dort (ausnahmsweise) ein paar Hausaufgaben zu machen. Ich setzte mich auf eine Bank und begann mit den schwachsinnigen Matheaufgaben. Plötzlich sah ich einen jungen Mann, etwa siebzehn, achtzehn Jahre, der in einem Gebüsch verschwand. Dann kam er gleich wieder heraus und rief: »Hey, da unten liegt mein Freund. Der ist die Treppe runtergefallen.« Hinter dem Gebüsch stand ein kleines Haus mit einer Treppe, die zu einem Keller führte. Ich erinnere mich noch, wie ich sofort dachte: Da kann ich jemandem helfen. Also sprang ich auf, rannte ins Gebüsch und schaute die Treppe hinunter – wo zu meiner Verwunderung aber niemand lag. In diesem Moment packte mich der Kerl und begann mich zu würgen. Ich werde nie vergessen, wie er aussah: Er war blond und trug eine schwarze College-Jacke mit weißen Ärmeln. »Sei still! Kein Mucks!«, befahl er mit eindringlicher Stimme. Zunächst war ich vollkommen perplex und aufgebracht. Dann stieß ich mich von ihm ab und schrie. Mein Leben war in Gefahr. Der Typ würgte mich weiter und stieß mich gegen die Wand. Der Typ versuchte, mich die Treppe hinunterzustoßen. Ich ruderte mit den Armen und bekam einen kleinen Baum zu fassen. Aus dem Augenwinkel sah ich einige Passanten, ich schrie, aber keiner kam, um mir zu helfen. Mein Puls raste. Ich geriet in Panik. Ich dachte: Losreißen. Ich muss mich losreißen! Ich sammelte all meine Kräfte, zog und zerrte und riss mich schließlich los. Doch er hatte meine Tasche gepackt, der Riemen schnürte mir den Hals ab. Mit aller Kraft wehrte ich mich, bis der Riemen riss. Mit einem Ruck flog ich nach vorn, ich fing mich und rannte wie ein Verrückter los. Ich rannte zur Schule, ins Klassenzimmer. So schnell war ich noch nie in der Schule gewesen.

    Mein Herz schlug wie wild. Mein Kopf dampfte vor Aufregung. Meine Halsschlagader pochte. Ich hustete und schnappte nach Luft. Alle starrten mich an. Einige kicherten. »Beruhig dich, Michel, was ist los?«, fragte die Lehrerin. Sie wirkte hilflos, überfordert. Ich setzte mich, mein Körper war heiß, ich war nicht wirklich da, ich war irgendwo. Allmählich wurde mir klar, dass all meine Kung-Fu-Übungen mir nicht hatten helfen können. Ich hatte dem Tod ins Auge geblickt. Ich blutete am Hals. Das war nicht bloß ein Gerangel gewesen, nein! Das war diese eine Situation gewesen, vor der die Großen einen immer gewarnt hatten. »Geh nie mit einem Fremden mit!« Aber ich war doch schon elf. Trotzdem war ich überfordert. War ich gar nicht so stark, wie ich dachte? Ich fühlte mich verlassen.
    Die Polizei kam. Ich beschrieb den Typen. Dann wurde ich zwei Stunden lang in einem Peterwagen herumkutschiert. Mir wurden alle möglichen Typen gezeigt, die der Polizei als Sittentäter bekannt waren. Nichts. Natürlich fanden wir ihn nicht. Also fuhren mich die Polizisten ins Hotel zu meiner Oma. An der Bar erzählte ich, was passiert war. Alle schauten mich nur verdutzt und sprachlos an. Allmählich aber fingen sie an zu spekulieren, vielleicht war es ja der Vater eines Jungen, den ich mal verprügelt hatte. Er wollte mir eine Lektion erteilen. Aber das alles war nicht mehr als Ausdruck ihrer vollkommenen Hilflosigkeit, keiner wusste, was er mir sagen sollte, wie er mich hätte trösten können. Auch meine Oma nicht. Stattdessen gab sie mir die Schlüssel für ihre Wohnung.
    Ich schlief auf der Couch im Wohnzimmer ein. Als ich aufwachte, fühlte ich mich wie in Watte gepackt. Dann schoss mir gleich wieder durch den Kopf, was alles hätte passieren können. Ich war am Leben, glücklicherweise. Das war ein beruhigendes Gefühl. Ich aß eine Frikadelle mit Ketchup. Ich schaute mir die Frikadelle an und den roten Ketchup. Minutenlang starrte ich die Frikadelle an. Langsam lief der rote Ketchup hinunter. Geil, dachte ich. Dieses schöne Rot, und wie langsam das läuft. Dann sah ich aus dem Fenster – in den Himmel. Hörte die Vögel zwitschern, mitten hier auf St. Pauli. Vorher war es mir noch nie aufgefallen, dass es auch hier Vögel gibt. Mir wurde klar, wie schön das Leben ist. Wie wertvoll. Und wie wichtig es ist, das Leben zu verteidigen.
    Dieser Tag verändert mich. Ich wurde melancholisch, introvertiert, malte Bilder, die Gewalt und Brutalität zum Thema hatten. Die Lehrer sagten, ich sei brutaler in
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