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Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Titel: Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
Autoren: Ulf Meyer zu Kueingdorf , Michel Ruge
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Butsche, der sich nichts sehnlicher wünschte, als ein Lude zu werden. Mir gefielen die Rolex, die Maßanzüge, wie sich die Luden mit Gold und Diamanten schmückten, um zu betonen, dass sie wichtig und erfolgreich waren, dass sie aus einer anderen Welt stammten. Eine Welt, die für die Soliden unerreichbar schien. Wenn etwa der Schöne Klaus mit seinem Lamborghini durch dem Kiez fuhr, dann war der Kiez seine Bühne. Klaus schwebte geschmeidig-kraftvoll das Kopfsteinpflaster entlang, hinter ihm geheimnisumwoben und stolz seine Frauen, mit unglaublich langen Beinen und die aufregenden Körper in teure Pelze gehüllt. Ich auch! Haben wollen , dachte ich damals. Die Lakaien hielten respektvoll Abstand zu ihrem Boss. Dann kamen seine Freunde auf ihn zu. »Karate« Tommy und wie sie alle hießen. Mit Küsschen hier und Küsschen da und allerlei Trubel begrüßte man sich, die Passanten guckten und staunten. Es war ein Schauspiel, ein Spektakel, das den Zuschauern den Atem raubte. Mir auch.
    Ich sah die glitzernde, schillernde Welt von St. Pauli, die Lichter, den Glamour, das Abenteuer, und mir war klar, was ich wollte. Ich lief und ich kam pünktlich in der Schule an, ausnahmsweise. War ja auch Montag. Ich fühlte mich frisch und ausgeschlafen. Ich hatte die Hoffnung, dass die Schule vielleicht doch spannend sein könnte. Am Wochenende hatte ich alles Schlechte über die vergangene Schulwoche vergessen. Meine Mitschüler waren schon da. Der Lehrer noch nicht. Sobald ich die Klasse betrat, fiel mir wieder alles ein – all das Schlechte. Es stank. Nach Schulbroten in Plastikdosen, in denen die eingesperrte Luft zu stinken begann, von der schwitzenden Wurst, von dem schwitzenden Käse. Es stank nach billigen Holzmöbeln, nach Langeweile, nach Kleinkariertem, nach Spießern, nach Furzen. Es stank nach Siechen, nach Tod. Es widerte mich an. Ich setzte mich auf meinen Platz und versuchte, mich wegzudenken.

    St. Pauli war mein Zuhause. Mit zwölf hatte ich dort das erste Mal Sex mit einer Nutte. Mit vierzehn wurden Schlägereien mein täglich Brot. In den Achtzigern gehörte ich den Gangs von St. Pauli an. Wir schlugen uns mit Skins, Poppern und Mods. In unseren Bomberjacken und Leone-Boxerstiefeln von Crazy Jeans zogen wir durch den Kiez. Sechzig Mann, eine Armee – die Straßen gehörten uns. Die Gangs waren eine eigene Subkultur, heute vollkommen in Vergessenheit geraten. Wir waren eine Bruderschaft, kamen uns vor wie die Warriors aus dem gleichnamigen Film, hatten ein starkes Gefühl für Autorität und Macht. Aber auch wir waren Underdogs – wie die Punks –, auch wir waren gegen das Establishment, gegen die Spießer und die Kleinbürger, die einem die Luft zum Atmen rauben. St. Pauli war unser Abenteuerspielplatz und der Ort, wo unsere Träume und Sehnsüchte tanzten. Doch in den Achtzigern veränderte sich unsere Welt. Die Drogen kamen nach St. Pauli, AIDS lähmte das Rotlichtgewerbe, es kamen die Waffen, die Morde. Der Kiez geriet auf die schiefe Bahn. Die Grenzen verschoben sich. Die Menschen veränderten sich. Wie Zigeuner-Fritz, mein bester Freund, der voller prallem, geilem Leben steckte. Mit Fritz war ich unterwegs. Wir wollten Männer werden. Männer, die sich schlagen, lieben und die frei sind. Fritz aber wurde irgendwann zum Terrier. »Haltet mich endlich zurück. Haltet mich fest«, schrie er mir bei einem Streit zu, damit ich ihn zurückhielt. Wenn es dann eskalierte, klatschte es zweimal. Einmal im Gesicht und einmal auf’m Asphalt. Zickzack!
    Ohne Grenzen spürt man sich nicht. Ohne Grenze spürt man nicht, dass man lebt. Wir wollten Grenzen verschieben, über die Grenzen hinaus, bis keine Grenze mehr zu sehen war und wir mitten im Nichts, haltlos, ohne Horizont, schwindelig, ohne Ziel neue Grenzen suchten. Damals veränderte sich alles auf St. Pauli. Der Kiez wurde wahnsinniger, der Wahnsinn wurde wahnsinniger. Was aber blieb: Der Kiez war eine eigene Welt, mit eigenen Gesetzen. Und ich war ein Kind dieser Welt. Dies ist die Geschichte dieser Welt. Es ist meine Geschichte.

    Vor einer Stunde war ich noch auf der Reeperbahn gewesen. Jetzt saß ich in dieser toten Zone, in diesem hohlen, sehnsuchtsfernen Schulraum. Ich hatte noch den Geruch von Pisse, Kotze und Currywurst in der Nase. Und den geilen, süßen Geruch von Parfum, Sex und Frauen. Mein Geist war noch auf’m Kiez. Dann schockte das grelle Licht der Neonröhren im Klassenzimmer mein Bewusstsein. Ich war wieder in der Hölle.
    Ich
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