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Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)

Titel: Bordsteinkönig: Meine wilde Jugend auf St. Pauli (German Edition)
Autoren: Ulf Meyer zu Kueingdorf , Michel Ruge
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schaute an mir runter. Meine zu enge Jeans stand vor Dreck. Meine Beine kribbelten vor Nervosität und Ungeduld. Ich war dünn, hatte nie wirklich Zeit zu essen. Fürs Kacken hatte ich auch keine Zeit. Wenn ich auf der Toilette saß, hatte ich immer das Gefühl, etwas zu verpassen. Keine Zeit! Der Kiez war spannender. Ich wollte raus, etwas erleben. Immer trieb es mich raus. RAUS! Dieses Gefühl brannte in mir. Wie ein Hunger, den ich nie stillen konnte. Sosehr ich das Leben auch in mich hineinschaufelte und es hinunterschlang, dieses geile, pralle Leben. Leben will sich verschwenden. Ich wollte mich verschwenden!
    Der Lehrer kam rein. Frustriert, blass, ohne Haltung, lustlos, ein nervöser Waschlappen. Ein Spießer! Er war voller Verachtung für uns Kinder aus den sozial niederen Schichten. Er knallte seine Tasche auf den Tisch, und bevor er was sagte, ließ der Stress seinen Kopf rot aufleuchten. Wir waren die Geier an seinen sterbenden Nerven. Wir warteten und beobachteten. Unser Tag würde kommen!
    Fünfundvierzig Minuten auf einem Holzstuhl sitzen. Das ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Das ist gegen alle Natur. Gegen alle Kraft. Gegen alle Liebe. Ich schaute aus dem Fenster. Blauer Himmel. Ich blickte zur Reeperbahn hinüber, wo ich mich seit meiner Kindheit herumtrieb. St. Pauli war mein Abenteuerspielplatz. Der Kiez war immer schon ein Ort gewesen, der im Handumdrehen Sehnsüchte und Träume erschuf, nur um sie im nächsten Augenblick zum Platzen zu bringen. Er war ein Ort, wo das pralle Leben gärte und brodelte. Ich dachte an den Kiez, an meinen Kiez. Ich wollte kämpfen. Ich wollte schreien, lachen, weinen, ficken. Ich wollte leben!
    Ich blickte nach vorne. Ich sah volles braunes Haar. Ich sah Claudia Meyer! Sie war der Grund, weshalb ich in die Schule kam. Nur für sie! Der Nachname war eine Finte. Claudia war alles, nur nicht langweilig. Sie war nicht meyer. Sie war das blühende Leben, sie war schon damals ein Star. Sie war keine klassische Schönheit. Sie war ein Junge in einem Mädchenkörper, aber sie war äußerst attraktiv. Und sie hatte dieses gewisse Etwas. Ein Blick, eine Bewegung – und man war ihr verfallen. Ich war ihr verfallen. Claudia hatte Sommersprossen. Ihre Augen strahlten blau. Mit ihren zwölf Jahren bewegte sie sich schon besser als die meisten Frauen auf dem Kiez. Sie tanzte durch die Straßen, sie schwebte über den Boden. Wenn sich ihre schönen Beine beim Gehen geschmeidig aneinanderrieben und sie verstohlen auf den Boden blickte, wenn sie mich im Vorbeigehen ansah und verschmitzt grinste, blieb mein Herz stehen. Claudia, meine heimliche Liebe.
    Ich lernte Claudia schon sehr viel früher kennen. Bevor ich in die Schule ging. Als die Schule mich noch nicht gepackt hatte mit ihren gierigen Klauen. Da begann mein Leben, vor der Schule, wie bei jedem – und doch ganz anders.
    Das war 1969.

2 Kalle und Joschi haben im Betten Voss kellneriert. Meine Mutter, glaube ich, auch …
    M eine Mutter war sechzehn. Ihre Klamotten waren eng und knapp. Langes, volles schwarzes Haar. Lange Beine. Lange Lederstiefel. Nur der Rock und ihre Kindheit waren kurz. Sie lebte im Eiltempo. Sie ging mit Günther Kaufmann und Mario Amtmann in eine Klasse. Kaufmann wurde Schauspieler bei Fassbinder. Amtmann wurde Rocker und gründete die Hells Angels in Deutschland. Beide machten Karriere, jeder auf seine Weise. Auch meine Mutter machte Karriere. Sie wurde die Ruth von der Feuerbachstraße. Weil meine Oma mit all den Widerworten nicht klarkam, steckte irgendwann eine Gabel im Rücken meiner Mutter. Danach ging es schnurstracks ab in ein berüchtigtes Heim für Schwererziehbare. Ein Paradies für die Schwersten unter den Schwererziehbaren.
    Nachts rückten sie regelmäßig aus – und meine Mutter war dabei. Sie wollte das Erwachsenenspiel lernen – schnell, zügig, zack, zack. Mit dreizehn war es endlich so weit. Sie spielte das Spiel, das sie so liebte seitdem. Von da an war auch für sie St. Pauli ein Abenteuerspielplatz. Mit ihrer Schwägerin Mona ging’s auf’n Swutsch. Tanzen. Auf die Reeperbahn oder ins Schanzenviertel, ins Ballhaus in der Flora auf dem Schulterblatt. Dort lernte sie einen ausgesprochen charmanten, gutaussehenden Mann kennen: Heinz Peter, meinen Vater. Der war zwar erst 32, hatte aber schon eine beachtliche Karriere hingelegt. Er war Bordellbesitzer, dreifacher. Das klingt in meinen Ohren wie dreifacher Weltmeister im Schwergewicht – nur besser. Es muss Liebe
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