Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition)
Autoren: Peter Buwalda
Vom Netzwerk:
er sich an den Tisch setzen will, aber er kriegt den Schreck seines Lebens. Die Tragegurte fühlen sich anders an, es sind keine Gurte mehr, sondern Arme, die sich wehren. Dünne Finger klammern sich an seine Schultern. Er schreit laut auf vor Angst, die Menschen am Tisch beobachten ihn ungerührt. Jedes Mal, wenn er ein Ärmchen beim hageren Handgelenk zu fassen bekommt und losreißt, krallt sich die andere Hand des Wesens wieder verbissen an seiner Jacke fest. «Ich bin’s doch, Simon», hört er an seinem Ohr. «Deine Mutter. Willst du deine Mutter etwa loswerden?»
     
    Noch ehe er die Augen öffnet, wird ihm bewusst, wo er ist: in seinem Auto, auf dem flachgelegten Beifahrersitz, geschient an seinen Skiern. Er steht auf einem Parkstreifen kurz vor Lyon und fühlt sich wie gerädert. Auf der Uhr im Armaturenbrett sieht er, es ist Viertel vor fünf am Nachmittag. Er hat eine Dreiviertelstunde geschlafen, höchstens. Es dämmert schon wieder. Noch etwa zehn Sekunden bleibt der Albtraum an ihm haften, dann zucken die vergangenen vierundzwanzig Stunden wie ein Stromstoß durch ihn hindurch.
    Die Folge ist dramatisch. Aus dem Plan, sich ein Hotelzimmer zu nehmen, ist natürlich nichts geworden, deshalb hat er sich ja hier hingelegt: um hinter die schreckliche Nacht, die sich auch am Tag fortsetzte, einen Schlusspunkt zu setzen; oft wirken die Dinge tagsüber weniger desaströs. Diesmal nicht. Die Nacht ist jetzt noch schwärzer.
    Er stellt die Lehne hoch, kriecht über die Mittelkonsole hinter das Lenkrad. Er klammert sich daran fest. Als er wieder unterwegs ist, ertappt er sein Gehirn bei etwas Vergleichbarem: Es klammert sich an praktische Probleme und Problemchen, er hat die Strategie seines Denkens durchschaut. Neurotisch arbeitet es Fragen ab. Ist die Werkstatt hundertprozentig sauber? Lässt sich kein Blut im Holz des Baumstumpfs finden? Warum hat er die Spanplatte ausgerechnet zu Hause weggeworfen? Liegen die Müllsäcke wieder in der Waschküche? Hat jemand ihn in Charleroi gesehen? Wieso gehst du mitten im Wald ans Telefon? Den Verdächtigen der Feuerwerkskatastrophe ist man anhand ihrer Handy-Gespräche auf die Spur gekommen. Sieben Jahre warst du Rektor einer technischen Universität, und in diesem Wald gehst du mir nichts, dir nichts ans Telefon?
    Es sind Ablenkungsmanöver. Der Rausch des Gehetzten, in dem er von Charleroi fast bis nach Lyon gerast ist, Vollgas, die ganze Strecke hundertsechzig, Mingus at Antibes aus bis zum Anschlag aufgedrehten Lautsprechern, eine ungezügelte, gesetzlose, furiose, manische Stimmung – dieser Rausch ist verflogen. Als hätte es ihn niemals gegeben. Nicht einmal eine Minute nachdem er die Augen geöffnet hat, spürt er, dass unter seiner Seele etwas klafft, eine angsteinflößende Leere, über der sein innerster Kern, der Mann, der er ist, der Mann, der er bleiben muss, die Höhe zu halten versucht. Thermik.
    Sein Wagen verschlingt den Asphalt, der ihn von der Normalität trennt. In einer Stunde kann er in Val-d’Isère sein, noch eine Stunde, und der Sketch, der sein restliches Leben sein wird, kann beginnen. Doch er verliert an Höhe. Er probiert alles Mögliche. Der Ellbogen, die Fleischfasern – das funktioniert nicht mehr, sie sind, was sie sind. Was er in Den Haag ausrichten will, der Brief an Joni, noch immer das. Kann er Aaron anrufen? Isabelle Orthel, er versucht, sie sich vorzustellen – doch bittere nächtliche Bilder überblenden sein zielloses Herumphantasieren. Das fiebrige Träumen hat ihn erschöpft, im Verkehr rings um Lyon fährt er in einer sanften Kurve beinahe gegen eine Leitplanke.
    Es ging schief. Verpfuscht durch ihn. Er hatte den abstoßenden Rumpf rücklings auf den Baumstumpf geschoben, der Kopf war immer noch nach hinten weggeknickt, den Schal hatte er mit dem Taschenmesser weggeschnitten – genug Hals, um die Sache zu deichseln. Aber der Rum, den er getrunken hatte. Der Rum und das, was er sich abverlangte. Der erste Hieb war ein Fehlschlag. Platz, den blassen, gestreckten Hals zu treffen, war vorhanden, aber er zielte nicht genau oder verzog. Wie dem auch sein mochte: Die Klinge der Axt landete viel zu weit oben, traf die untere Hälfte des Gesichts. Ein tiefer Spalt, der vom linken Mundwinkel über die Oberlippe bis zur Nase reichte – alles klaffte, er hörte Schneidezähne und vielleicht auch Backenzähne brechen. Einen Moment lang schien es, als steckte die Axt tief im Oberkiefer fest. Er schnappte nach Luft. Als er die Klinge
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher