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Bonita Avenue (German Edition)

Bonita Avenue (German Edition)

Titel: Bonita Avenue (German Edition)
Autoren: Peter Buwalda
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verwahrlosten Häuser stehen auf einem mit Schutt und Plastikflaschen übersäten Areal. Sie sind etwa dreißig Meter von seinem Ziel entfernt: einer kleinen Sperrmülldeponie, die er von der Umgehungsstraße aus gesehen hat. Sofas, Fernseher, kaputte Fahrräder, Müllsäcke – vor allem viele aufplatzende Müllsäcke. Um den aufmerksamen Blick des Jungen zu erwidern, deutet er auf die Müllkippe. Augenblicklich erscheint Bestürzung auf dem ältlichen, ernsten Gesicht, die violetten Lippen bewegen sich wie Würmer. «Non» , sagt der Junge ermahnend, «non.» Er wedelt mit der großen Innenfläche seines Lederhandschuhs. «Venez!»
    Aber er will nicht mitgehen. Er muss den Rucksack loswerden. Es scheint, als begreife der Junge das, wisse jedoch, was besser für ihn ist. Er kommt noch näher an ihn heran, flink packt der riesige Handschuh sein Handgelenk. Mit seinem kleinen, runden Kinn deutet der Junge auf die gegenüberliegende Straßenseite. Um ihm einen Gefallen zu tun, nickt er und steigt von dem hohen Bürgersteig herunter, der Asphalt knirscht unter seinen Schuhsohlen. Der Junge zieht ihn schräg über die Straße, sie rennen fast, die weißen Clogs klappern wie Pferdehufe auf der mürben Straßendecke. Er macht sich Sorgen wegen des Rucksacks, das Gewicht hüpft unrhythmisch auf und ab. Die Gurte schneiden in seine Schultern. Das Blut tropft schneller, er hinterlässt eine Spur. Gleich rollt der Kopf über die Straße. Warum hat er ihn ins unterste Fach gesteckt? Ist der Reißverschluss überhaupt zu?
    Er stemmt sich gegen die Bordsteinkante, doch der Junge zieht ihn mit der Kraft eines Esels auf die grauen Gehsteigplatten. Sie betreten ein Lokal, über dessen Tür eine durchgebrannte Bierreklame hängt. Der Junge schiebt den samtenen Vorhang beiseite, und was sie sehen, ist eine Ruine. Es gibt keine Rückwand, blendendes Tageslicht drückt die abgebröckelten Mauern beinahe um. Auf einem Dielenfußboden läuft er mit offenem Mund in den Raum, der in struppiges Grasland übergeht. Vor ihm tut sich ein Panorama auf: Er sieht ein sonnenüberflutetes Betriebsgelände der Eisenbahn, so breit wie der Horizont, zahllose parallel verlaufende rostige Gleise, die von Brennnesseln, Löwenzahn und Klatschmohn überwuchert sind, durchqueren es. Hier und da stehen staubige Kohlenloren und ausgemusterte Waggons, auf denen das Sonnenlicht glitzert. Man könnte meinen, es sei Frühling. Dahinter, in der Ferne, ein grauer Kanal, vielleicht ist es ein Bassin. Am Horizont ein dampfender Industriekomplex mit breiten grauen Türmen, aus denen dicke gelbe Rauchsäulen aufsteigen.
    «Allons» , sagt der Junge und noch etwas in schnell dahinplätscherndem Französisch, das er nicht versteht. Er wartet auf der dritten Stufe einer Treppe, seine Weste sieht aus wie ein Kleid. Die Augen rollen fordernd in ihren verrosteten Höhlen. Jetzt erst sieht er, dass es ein rudimentär erhaltenes zweites Stockwerk gibt. Über seinem Kopf erstreckt sich eine halb abgerissene Zimmerdecke, lose Kupferrohre ragen daraus hervor und faseriges Isolierband. Das Blut rinnt aus dem Rucksack, hier ist es zu warm, es sickert auf die Dielen. «Bouffer.» Der Junge macht eine hastige Essbewegung und hält sich schnell wieder am abblätternden Geländer fest – entsetzt bemerkt er, dass sein anderer Arm fehlt. Gleich unterhalb der Schulter hat der Junge einen bleichen, vernähten Stumpf. Er geht zur Treppe und steigt mühsam hinter ihm her.
    Oben sitzen ein Mann und ein Mädchen an einem gedeckten Tisch und essen eine Art dunkelroten Eintopf. Es riecht nach Bratfett. Eine dicke Frau hockt vor einem Ofen, dessen Tür offensteht. Das Zimmer hat kein Dach, ist aber trotzdem möbliert. Schirmlampen stehen dort, und ein dunkles Ölgemälde hängt an der Wand. Der Junge ist bereits zum Tisch gegangen, sitzt neben dem Mädchen, das ihm behilflich ist: Es zieht den Motorradhandschuh von seiner Hand. Was für eine Ähnlichkeit mit Janis, es hat dieselben kurzen Haare, und die Augen stehen ein wenig zu eng beieinander. Es starrt an ihm vorbei auf das Rangiergelände.
    «Ich bin Siem», sagt er.
    Der Mann, ein ehemaliger Dekan der Tubantia, wie er erst jetzt erkennt, schaut auf und nickt ihm zu. «Asseyez-vous.» Plötzlich merkt er, wie hungrig er ist. Er möchte nichts lieber als einen Teller dieses zermanschten Essens. Könnte heulen vor Dankbarkeit.
    Er versucht, den Rucksack abzunehmen – das Bluten hat aufgehört, ist vielleicht alles Blut schon raus? –, weil
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