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Blutiges Eis

Blutiges Eis

Titel: Blutiges Eis
Autoren: Giles Blunt
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bekommen hatten. Eine Frau ausgerechnet – als ob Stan Cardinal sich von einer Frau was sagen lassen würde. Ray Choquette, dachte Cardinal, du fauler, rücksichtsloser Hund, dafür könnte ich dich erwürgen!
    Cardinal senior war dreiundachtzig – physisch jedenfalls. Das Haar an seinen Unterarmen war inzwischen weiß, und er hatte die wässrigen Augen eines sehr alten Mannes. Andererseits benahm er sich nach Ansicht seines Sohnes nicht selten wie ein Vierjähriger.
    »Wie lange will sie uns denn noch warten lassen?«, fragte Stan zum dritten Mal. »Wir hocken hier schon seit einer geschlagenen Dreiviertelstunde. Meint die vielleicht, andere Leute hätten ihre Zeit gestohlen? Kannst du mir sagen, wie die als Ärztin was taugen soll?«
    »Das ist so wie überall im Leben, Dad. Ein guter Arzt ist ein gefragter Arzt.«
    »Blödsinn. Es ist die Habgier. Hundert Prozent pure kapitalistische Habgier. Du weißt doch, bei der Bahn war ich mit fünfunddreißigtausend Dollar im Jahr glücklich und zufrieden. Dafür mussten wir uns schon ganz schön ins Zeug legen, und, bei Gott, was haben wir uns ins Zeug gelegt! Aber für fünfunddreißigtausend Dollar studiert kein Mensch Medizin.«
    Jetzt geht das wieder los, dachte Cardinal. Nummer 27D. Das Hirn seines Vaters schien aus einer einzigen Plattensammlung zu bestehen.
    »Und dann kommt die Regierung und hält sie am ausgestreckten Arm aus dem Fenster«, fuhr Stan fort. »Also satteln sie um und werden Börsenmakler oder Rechtsanwalt, wo sie die Kröten verdienen, die sie haben wollen. Und am Ende gehen uns die verdammten Ärzte aus.«
    »Sag das Geoff Mantis. Er ist derjenige, der das Gesundheitswesen mit der Kettensäge saniert.«
    »Die würden einen so oder so warten lassen, egal, wie viele es von ihrer Sorte gibt«, sagte Stan. »Sie halten sich für was Besseres, und sie halten sich nicht nur dafür, sondern es soll auch ja jeder sehen. Sie lassen dich warten, um dir zu sagen, ›Ich bin wichtig, du nicht.‹«
    »Dad, es gibt zu wenig Ärzte, deshalb müssen wir warten.«
    »Verrat mir mal eins: Hat ne junge Frau nichts Besseres zu tun, als den Leuten von morgens bis abends in den Hals oder den Hintern zu gucken? Mein Fall wär das jedenfalls nicht.«
    »Mr. Cardinal?«
    Stan erhob sich mühsam. Die junge Sprechstundenhilfe kam mit einem Schnellhefter hinter ihrem Schreibtisch hervor.
    »Kann ich Ihnen helfen?«
    »Geht schon, geht schon.« Stan drehte sich zu seinem Sohn um. »Worauf wartest du?«
    »Ich muss doch nicht mit reinkommen«, sagte Cardinal.
    »Nee, nee, du kommst mit. Ich will, dass du es selber hörst. Du meinst, ich könnte nicht mehr fahren, ich will, dass du die Wahrheit hörst.«
    Die Arzthelferin machte die Tür zum Sprechzimmer auf, und sie gingen hinein.
    »Mr. Cardinal? Winter Cates.« Die Ärztin war kaum älter als dreißig, doch sie stand von ihrem Schreibtischsessel auf, kam zu ihnen herüber und begrüßte sie mit dem unterkühlt knappen Handschlag eines alten Profis. Sie hatte eine zarte, blasse Haut, die sich scharf von ihrem schwarzen Haar abhob. Die dunklen Augenbrauen zogen sich zu einem fragenden Blick zusammen, der jetzt Cardinal galt.
    »Ich bin sein Sohn. Er hat mich gebeten, mit reinzukommen.«
    »Er glaubt, ich könnte nicht fahren«, sagte Stan. »Aber ich weiß, dass meine Füße wieder besser sind, und ich will, dass er es aus erster Hand erfährt. Wie alt sind Sie überhaupt?«
    »Ich bin zweiunddreißig. Und wie alt sind Sie?«
    Stan gab einen erstaunten Laut von sich. »Ich bin dreiundachtzig.«
    Dr. Cates wies auf einen Stuhl gegenüber dem Schreibtisch.
    »Danke. Ich stehe lieber.«
    So standen sie zu dritt mitten im Zimmer, während Dr. Cates Stans Krankenblatt durchging. Ihr Haar war mit einer Spange zusammengehalten, ohne die es, wild und schwarz, in alle Richtungen gesprungen wäre. Sie strahlte eine enorme Vitalität aus, die der Ernst ihres Berufs nur gerade eben im Zaum hielt.
    »Also, Sie waren bis vor kurzem ein gesunder Mann«, sagte die Ärztin.
    »Nie geraucht, nie mehr getrunken als ein Bierchen zum Essen.«
    »Dann sind Sie auch ein kluger Mann.«
    »Soll Leute geben, die das anders sehen.« Stan warf seinem Sohn einen vielsagenden Blick zu, den Cardinal ignorierte.
    »Und Sie haben Diabetes, den Sie mit Glukophag behandeln. Kontrollieren Sie Ihren Zucker selber?«
    »Sicher. Wüsste zwar was Besseres, als mir alle fünf Minuten in den Finger zu pieken, aber egal. Ich halte meinen Blutzucker strikt im
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