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Blutiges Eis

Blutiges Eis

Titel: Blutiges Eis
Autoren: Giles Blunt
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wäre es nicht zu einer kulturellen Obsession geworden. Ich vermute allerdings, dass die reinigende Wirkung von sehr kurzer Dauer ist. Und ich bin sicher, dass Sie mir darin zustimmen.«
    »Es geht hier nicht um mich.«
    »Wirklich nicht? Sie scheinen auf die Idee fixiert zu sein, dass Menschen nicht das sind, was sie zu sein scheinen. Ich frage mich, wieso. Nun ja, es stimmt natürlich, dass Menschen oft anders sind, als sie nach außen wirken. Geoff Mantis ist eine Ausnahme, und das ist einer der Gründe, warum ich ihn bewundere. Vielleicht war Ihr Vater eine Ausnahme – mein Beileid übrigens –, ein Gewerkschafter. Jemand, der noch andie Würde der Arbeiterklasse glaubte, an autonome Tarifverhandlungen.
    Und dann nehmen Sie mich, ein Waisenkind aus Trois-Rivières rappelt sich aus eigener Kraft hoch. Wie wahrscheinlich ist das wohl, fragen Sie sich. Ich kann es Ihnen beinahe nicht mal verübeln, dass Sie eine solch unglaubliche Geschichte auseinander nehmen wollen. Aber kommen wir doch mal zu Ihnen. Sie arbeiten für die Stadt. Ich weiß genau, was Sie verdienen. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass ein Mitglied der örtlichen Polizei eine Tochter durch Yale bekommt.«
    »Ich hab’s versucht«, sagte Cardinal. »Konnte es mir am Ende nicht mehr leisten.«
    »Und die Tamarind Clinic in Chicago. Das Beste, was man für sein Geld an Behandlung von Depressionen bekommen kann. Soll besonders gut für Frauen sein. Aber medizinische Betreuung gibt es in den Staaten nicht umsonst. Selbst ein kurzer Aufenthalt in einem solchen Institut beläuft sich auf zigtausend Dollar – amerikanische Dollar, nicht kanadische. Ach, nehmen Sie das auch auf Band auf?«
    »Ich würde es Ihnen kaum sagen, wenn es so wäre.«
    »Und Sie könnten es kaum benutzen, nach dem, was ich gerade gesagt habe.«
    Cardinal öffnete die Wagentür und stieg aus. Der eiskalte Regen hatte ihn augenblicklich durchnässt. Laroche kurbelte sein Fenster herunter.
    »Sie wollen im Regen zurücklaufen?«
    »Ich denke schon. Die einzigen Mörder, mit denen ich rede, sind diejenigen, die ich verhafte. Vielleicht setzen wir unsere Unterhaltung bald fort.«
    Laroche zuckte die Achseln. »Was glauben Sie, wie weit Sie damit kommen, Detective?«
    »Vermutlich nicht sehr weit. Wie Sie schon sagten: Wenn ich Beweise hätte, würde ich Ihnen jetzt Handschellen anlegen.«
    Wieder war das Quieken eines Schweins zu hören, und in einer langsamen, anmutigen Bewegung kippte der Strommast um. Ein Kabel riss und schnitt so schnell durch die Luft, dass es einem Menschen den Kopf vom Rumpf getrennt hätte. Es traf mit einem Geräusch auf das Eis, das Cardinal den Magen umdrehte – ein ungeheures, intergalaktisches Rülpsen. Es schien keine zwanzig Meter entfernt zu sein. Cardinal stand vollkommen still, mit geschlossenen Füßen.
    »Wollen Sie wirklich nicht wieder in den Wagen kommen?«
    »Danke. Ich glaube, ich bleibe lieber hier.«
    Von Osten wehte ein kalter Wind. Eine Eiskruste überzog Cardinals Ärmel wie zarte Spinnweben.
    »Und wie soll’s jetzt weitergehen?«, fragte Laroche. »Ich bin nicht in Panik geraten, ich bin nicht zusammengebrochen und habe kein Geständnis abgelegt. Was sagt das über mich?«
    »Darüber maße ich mir kein Urteil an. Ich verstehe Sie nicht.«
    »Natürlich nicht. Wir sind vollkommen verschieden. Ich meine, sehen Sie mich an: Ich baue diesen Club hier, ich besitze mehr Häuser als Sie Hemden. Mein Geld würde für dreißig Männer reichen. Und ich verstehe mich bestens mit Ihrem Polizeichef und dem Staatsanwalt – ganz zu schweigen vom Premier. Und dann …« Er machte eine Handbewegung in Richtung Cardinal, als zeigte er auf ein schäbiges Haus, das man keinem Interessenten anzubieten wagt. »Sehen Sie sich an.«
    Wieder gab es ein krachendes Geräusch, und wieder traf das Stromkabel auf das Eis. Blaue Funkengirlanden tanzten auf Cardinal zu.
    Laroche kurbelte sein Fenster hoch, und der Navigator fuhr fort. Cardinal sah den roten Rücklichtern nach, die, wann immer Laroche bremste, leicht flackerten. Der Regen trommelte ihm wie Kieselsteine auf die Haut.
    Drei Mal, hatte Stancek gesagt. Eine Hochspannungsleitung sei nach dem dritten Kurzschluss tot. Cardinal war schon vollkommen durchnässt und zitterte wie Espenlaub. Er wünschte sich nichts so sehr, wie wegzurennen. Aber er dachte an den Jungen an dem Strommasten damals. Die Leitung kam in Schleifen über das Eis geschlittert. Cardinal machte die Augen zu und wartete mit
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