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Blutiger Winter: Ein Oger-Roman (German Edition)

Blutiger Winter: Ein Oger-Roman (German Edition)

Titel: Blutiger Winter: Ein Oger-Roman (German Edition)
Autoren: Stephan Russbült
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sei der Einstieg ins Unterreich, doch für Hagrim war es die Klappe zum Weinkeller, nicht mehr und nicht weniger.
    Er wusste nicht, wie lange er schon an diesem Tisch saß, mit seinen Fingernägeln auf der verkohlten Tischplatte herumkratzte und die öden Wände anstarrte. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
    Ein weiterer Beweis dafür, dass ich in einer Kneipe bin, dachte er.
    Das Letzte, woran er sich erinnerte, war Cindiel, wie sie vor dem Baum Mystraloon kniete und den unscheinbaren Stein in den hohlen Stamm fielen ließ. Er wollte ihr sagen, was er ihr alles verdankte. Er wollte sie in den Arm nehmen und an sich drücken, ihr ins Ohr flüstern, dass alles gut werden würde. Doch stattdessen wurde ihm schwindelig. Alles um ihn herum begann zu verschwimmen, er musste sich setzen. Und er setzte sich - auf diesen verdammten Stuhl.
    Ein Dutzend Mal hatte er sich schon vorgenommen, aufzustehen, zu einem der Fensterläden zu gehen und sie zu öffnen, doch eine innere Stimme sagte ihm, er solle es nicht tun. Es schien die gleiche Stimme zu sein, die sonst immer behauptete, ein Glas könne er noch trinken, bevor er nach Hause ging, deswegen vertraute er ihr.
    »Bei Prios, was mache ich hier?«, schrie Hagrim und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Es gibt keine Geschichten von alten Männern, die an einem Tisch sitzen.«
    Sein Hochgefühl schwand genauso schnell, wie es gekommen war. Ihm wurde bewusst, er war keiner dieser Männer, von denen in den Geschichten erzählt wurde. Die Männer in den Geschichten waren immer tapfere Helden, schöne Jünglinge, bärenstarke Recken oder weise Zauberer. Über arbeitsscheue Trinker sprach man nur mit vorgehaltener Hand hinter ihrem Rücken. Merkwürdig schien jedoch die Tatsache, dass die Helden aus den Geschichten meist nicht alt wurden, sondern einen besonders heroischen oder tränenrührenden Tod fanden, ein Ableben, das den meisten alten Trinkern nicht zuteil wurde. Dafür waren sie alt. Hagrim fand es erstrebenswerter, alt zu werden, als eindrucksvoll, aber jung zu sterben. Anscheinend machte er irgendetwas richtig.
    Hagrim überlegte, was er tun würde, wenn er tatsächlich in einer Kneipe saß. Die Antwort war schnell gefunden: Er würde trinken.
    Er spielte das Spiel in Gedanken weiter.
    Was, wenn er kein Geld hatte?
    In diesem Fall würde er die Gäste unterhalten und dafür ein Gläschen bekommen.
    Was, wenn keine Gäste da waren?
    Dann würde er den Wirt anschnorren.
    Was, wenn auch kein Wirt da war?
    Dann würde er weiterziehen oder nach Hause gehen. Nein - in einer Kneipe unbeobachtet und sicher vor den Stadtwachen ...
    Sein Blick fiel auf die Luke zum Keller.
    »Ich würde in den Keller gehen und mich volllaufen lassen«, brummte er halblaut.
    Genau das würde er jetzt tun. Er erinnerte sich nicht, aufgestanden zu sein oder die Kellerluke geöffnet zu haben, doch plötzlich stand er auf der hölzernen Treppe, die zu einem Weinkeller führte. Die Luke über ihm war geschlossen, und ein süßlicher Geruch lag in der Luft.
    »Da bist du ja endlich«, krächzte eine Stimme aus der Tiefe des Gewölbes. »Ich dachte schon, du würdest ewig dort oben hocken.«
    Hagrim erkannte die Stimme, ihr krächzender Unterton und die Bösartigkeit, die in jeder Silbe lauerte, gehörte zu Bocco Talis. Er gehörte jetzt ihr, und sie konnte über ihn bestimmen.
    Hagrim unterdrückte seine Angst. Er wollte dem alten Weib seine Furcht nicht zeigen. Bei seinem letzten Besuch in diesem Keller war Hagrim erhobenen Hauptes in die Schuld getreten, die eigentlich Cindiel zu begleichen hatte, jetzt wollte er nicht als jemand dastehen, der sein Wort bereute. Bocco konnte die Angst von Menschen riechen. Sie war so etwas wie die Königin der Gefühle. Er täuschte sie über sein Innerstes hinweg, wie er jeden zu täuschen vermochte - mit Worten.
    »Mir stand der Sinn nach etwas Abwechslung. Die ›Tonphiole‹ ist kein Ort, an dem man wirkliche Zerstreuung findet. Der Wirt ist unfreundlich, die Schankmaid hässlich und die Gäste wenig gesprächig. An so einem Ort kann man sich nur volllaufen lassen. Hier bin ich, schenkt den Korken die Freiheit.«
    Bocco schüttete sich aus vor Lachen, auf ihre ganz eigentümliche Art. Es war mehr ein Zusammenspiel von Kichern, Husten und ersticktem Jubel, doch anscheinend erfreute sie die ausgelassene Art des Geschichtenerzählers.
    Hagrim betrat die letzte Stufe und überlegte sich, wie er der Hexe entgegentreten sollte, mit oder ohne höflichen Knicks,
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