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Blut Von Deinem Blute

Titel: Blut Von Deinem Blute
Autoren: Silvia Roth
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Morgen, an dem Ellie in Tante Coras Haus kam. Ich weiß, dass es selbstgemachtes Apfelgelee gegeben hat und Quark mit Zucker und Brombeeren. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich den liebevoll gedeckten Frühstückstisch vor mir, die Erinnerung daran ist wie ein Foto, das ich von allen Seiten betrachten kann und auf dem jedes kleinste Detail festgehalten ist. Ich kann sagen, dass Tante Coras Messer quer über ihrem abgegessenen Teller liegt und dass mein Ei unter dem gehäkelten Eierwärmer braun ist. Ich sehe die Fliege, die in einer Falte der Gardine sitzt, und die Vase mit Efeu und Heidekraut in der Mitte des Tisches. An all das erinnere ich mich, als sei es gestern gewesen, und auch daran, dass die Sonne an diesem Morgen so orangerot aufgegangen ist, wie sie es nur im Spätsommer manchmal tut. Der ganze Tag ist vollkommen windstill gewesen, fast so, als halte die Welt angesichts dessen, was in der Nacht zuvor geschehen war, noch immer den Atem an.
    Dabei hatten sie einen Sturm angesagt, damals. Auch das weiß ich noch. Dass sie einen Sturm angesagt hatten, der ausgeblieben war.
    Nur an den vorausgegangenen Abend habe ich keine Erinnerungen mehr. Die Stunden vom späten Freitagnachmittag bis zu diesem Frühstückstisch sind mir irgendwie abhanden gekommen. Und genau hier liegt das Problem. Hier und in dem Satz, den ich hörte, ein paar Stunden, nachdem Ellie uns am Frühstückstisch überrascht hatte. Es waren zwei Kriminalbeamte, die ich nie zuvor gesehen hatte. Sie waren eigens aus Portsmouth herübergekommen, um den Mord an meinem Vater und meiner Stiefmutter zu untersuchen, und manchmal sehe ich noch heute ihre Gesichter im Traum. Die beiden standen im Hof unter den Fenstern der Hotelküche, wo ich darauf wartete, dass es endlich Mittag wurde. Einer von ihnen rauchte eine Zigarette, und der andere sagte: »Es kann im Grunde nur eines des Mädchen gewesen sein.«
    Seltsam, dass mir die Bedeutung dieser Worte damals auf Anhieb klar gewesen ist, und ich habe diesen Satz und die Umstände, unter denen ich ihn gehört habe, nie vergessen.
    Die Vergangenheit begleitet uns durch unser ganzes Leben wie ein Schatten, der sich nicht abschütteln lässt. Sie prägt unser Handeln, unsere Beziehungen, einfach alles. Man kann versuchen, sie zu verleugnen oder sie sonstwie aus seinem Leben zu verbannen, doch all diese Verdrängungsmechanismen funktionieren nur eine begrenzte Zeit. Und dann holt einen die Vergangenheit ein. Plötzlich und unerwartet, durch einen Umstand, mit dem man nicht im Traum gerechnet hätte. So wie sie mich jetzt eingeholt hat.
    Vor fünfzehn Jahren bin ich von zu Hause fortgegangen. Ich habe die Insel sofort nach dem Begräbnis verlassen und mir geschworen, sie niemals im Leben wieder zu betreten.
    Aber nun kehre ich doch noch einmal zurück.
    Weil ich eine Antwort finden muss.
    Weil ich die Lücke in meiner Erinnerung, die mich so tief beunruhigt, schließen will. Die Lücke vor dem Frühstückstisch. Ich muss herausfinden, ob meine Schwester eine Mörderin ist.
    Oder ich.

 
     

 
    Dienstag, 20. August
     
     
    1
     
    Laura Bradley blickte an der Tragfläche vorbei in die silbrig glitzernde Weite des Meeres hinunter, während die Maschine langsam und gleichmäßig tiefer ging. Sie hatte eigentlich gar keinen Fensterplatz haben wollen, aber der August gehörte nun einmal zu den beliebtesten Reisemonaten und die Chartermaschine war so gut wie ausgebucht. Da konnte sie schon von Glück reden, überhaupt noch ein Ticket für einen Direktflug ergattert zu haben. Und ein Direktflug war definitiv das Einzige, was in Frage gekommen war! Laura ließ den Kopf wieder gegen den quietschsauberen Schonbezug sinken. Ein Zwischenstopp in Gatwick oder Bristol hätte automatisch bedeutet, dass sie noch einmal Zeit zum Nachdenken gehabt hätte. Von der Gelegenheit zur Flucht oder Umkehr ganz zu schweigen. Und sie durfte nicht umkehren. Nicht jetzt, da sie sich endlich zu diesem Schritt durchgerungen hatte ...
    »Da ist sie!«, rief die korpulente Frau auf dem Sitz neben ihr, indem sie an Laura vorbei aus dem Fenster spähte. »Mein Gott, ist sie nicht wunderschön?«
    Laura wandte den Kopf und sah, dass unterhalb des rechten Triebwerks die markante Ostküste Jerseys in Sicht gekommen war.
    So aus der Luft betrachtet, wirkte ihre Heimatinsel wieein riesiges grünes Kuhfell, das irgendjemand mehr oder weniger achtlos auf einen tiefblauen Teppich geworfen hatte. Einhundertsechzehn Quadratkilometer, umzingelt von
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