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Blut Von Deinem Blute

Titel: Blut Von Deinem Blute
Autoren: Silvia Roth
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im selben Moment krallt sich wieder die Hand meines Vaters in meinen Rücken und zieht mich zurück hinter die Flutlinie. Dorthin, wo der Sand fest und nass ist. Und ausnahmsweise bin ich froh über seinen entschlossenen Griff.
    »Sag mal, hast du was an den Ohren? Jetzt sieh dir das an!« Sein ausgestreckter Zeigefinger fuchtelt über meinen Sandaletten hin und her, die voller Sand und komplett durchnässt sind. »Hast du auch nur die leiseste Vorstellung, was solche Schuhe kosten?«
    »Mein Gott, Nick, das trocknet doch wieder«, wendet die Stimme meiner Mutter hinter uns ein, und ich fühle den Hauch einer Berührung auf meinem Haar. Sie ist immer sanft und vorsichtig, meine Mutter, fast so, als sei sie gar nicht wirklich da. Und auch jetzt würde ich wahrscheinlich denken, ich hätte mich getäuscht. Wäre da nicht ihre Stimme.
    Mein Vater öffnet den Mund, als wolle er ihr widersprechen, was er meistens tut. Doch er überlegt es sich anders und rammt stattdessen seinen Sonnenschirm in den Boden. Die herrische Geste eines Siedlers, der ein Stück Land okkupiert. Land, das er fortan mit allen Mitteln verteidigen wird.
    Ich starre seine dunkel behaarten Beine an und denke, dass ich meinen Vater hasse.
    Ein Stück links von uns hat Mia gleich nach unserer Ankunft damit begonnen, eine Sandburg zu bauen. Sie macht alles, was sie macht, viel zu groß, und auch jetzt sind Gräben und Mauern wieder mal so konzipiert, dass sie spielend eine ganze Armee beherbergen könnten. Mit einem Stock hat Mia all das, was sie bauen will, in den Sand gezeichnet, den das Meer eben erst freigegeben hat. Ein Irrgarten wirrer Linien und Kreise, mit denen außer ihr niemand irgendwas anfangen kann. Hinten aus ihrer Hosentasche hängt Herr Moll, ihr verfilzter grauer Stoffhase, der eigentlich weiß ist. Aber da meine Schwester nie auf ihre Sachen achtet, starrt das Vieh vor Dreck. Eines von den gestickten Augen zwinkert mir triumphierend zu, und ich denke, wie unfair es doch ist, dass unser Vater noch nie ein Wort über Mias räudigen Hasen verloren hat, aber einen Tobsuchtsanfall bekommt, wenn ich mir einmal im Leben die Schuhe nass mache.
    »Du hast den linken Turm für Nellie«, verkündet meine Schwester atemlos und meint meine Lieblingspuppe. »Wir machen deinen in Weiß. Und den anderen in Gelbtönen.« Ihr Gesicht ist gerötet von Sonne und Eifer.
    Der Muscheleimer in ihrer Hand ist randvoll und stinkt nach Qualle. Wie viel Zeit inzwischen vergangen ist, kann ich nicht sagen. Aber ein rascher Seitenblick verrät mir, dass sich das Meer ein ganzes Stück zurückgezogen hat. Immerhin.
    »Du sortierst sie nach Farben«, weist Mia mich an, indem sie mir den Inhalt ihres Eimers direkt vor die Füße kippt. »Ich hole neue.«
    Ich sehe ihr nach, wie sie auf das ferne Wasser zurennt, und frage mich, warum sie keine Angst hat. Schaum und glitzernde Wassertröpfchen spritzen an ihren Hosenbeinen hoch, während sie nach Baumaterial sucht, und das späte Sommerlicht macht ihre Züge unscharf, sodass ich sie nur noch wie durch einen Schleier wahrnehme. Um mich abzulenken, sortiere ich die Muscheln, die sie gesammelt hat, und verziere einen Turm in Weiß und den anderen in Gelb- und Brauntönen, genau so, wie Mia es angeordnet hat. Die Flut steigt, und das Wasser greift mit langen, grauen Fingern nach unseren Füßen. Als die ersten Gräben volllaufen, nehme ich Nellie vom Balkon des weißen Turms und trete ein Stück zurück.
    Plötzlich ist wieder mein Vater neben mir. »Du musst die Dämme verstärken«, sagt er, und es ist eindeutig eine Forderung, kein Vorschlag.
    Aber ich rühre mich nicht von der Stelle. Ich stehe einfach da und sehe zu, wie die anbrandenden Wellen immer größere Löcher in die sandigen Mauern reißen und die Seitenwände der Gräben wegbrechen.
    Mein Vater wirft mir einen verächtlichen Blick zu, der sich in meine Wange bohrt wie die Spitze eines Pfeils. Dann greift er sich meinen roten Kinderspaten und beginnt, die Burgmauern zu verstärken und Abflüsse für das Wasser zu graben. Er gräbt und gräbt, und Mia fängt an, ihm zu helfen. Die Wut darüber, dass sie mir in den Rücken fällt, drückt mir die Kehle zu und ich will ihr die Schaufel wegnehmen. Doch sie hält das Ding mit eisernem Griff, sodass ich schließlich aufgebe und zum Parkplatz renne, wo ich mich auf die niedrige Mauer hinter unserem Auto setze und heule.
    »Hey, Kleine, was ist denn los mit dir?«, fragt eine Touristin mit blauem Stirnband und Sorge
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