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Blut und Silber

Blut und Silber

Titel: Blut und Silber
Autoren: Sabine Ebert
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die reglose Gestalt noch lebte oder inzwischen erfroren war.
    Jan vergeudete keine Zeit damit, das mitten im Schneetreiben ergründen zu wollen. Rasch lud er sich den eiskalten Körper über die Schulter und bedeckte den schmalen Leib mit seinem Umhang. Er hoffte, seine eigene Körperwärme würde helfen, die Frau am Leben zu halten.
    Zurück am Erlwinschen Tor, pochte er kräftig gegen die Ausfallpforte und rief das Losungswort. Die Tür wurde erneut einen Spaltbreit geöffnet. Erst nachdem sich jemand mit ängstlichem Blick vergewissert hatte, dass da draußen wirklich Jan Waghals stand, wurde er hastig eingelassen.
    Mit seiner Last über der Schulter ging er ins Wachhaus, ohne auf Hartmanns ungeduldige Fragen zu antworten, und bettete die ohnmächtige oder tote Fremde – eine junge Frau, wie sich nun zeigte, vielleicht sogar noch unverheiratet angesichts der unbedeckten dunklen Locken – vorsichtig auf den Lehmboden, nahe am Feuer.
    »Sie sieht aus wie eine Eisfee, so weiß …«, wisperte andächtig Claus, der Jüngste unter den Torwachen. »Sogar ihre Wimpern und Augenbrauen sind voller Eis. Erinnert ihr euch noch an die Geschichten, die im letzten Sommer dieser reisende Händler erzählte? Von dem Reich weit oben im Norden, wo das Land ewig von Schnee bedeckt ist, die Bären weißes Fell haben, und wo Riesen und andere Ungetüme ihr Unwesen treiben?«
    »Unsinn«, knurrte Herrmann. »Es gibt keine weißen Bären. Und Feen haben keine Würgemale.«
    »Vielleicht musste sie mit den nordländischen Ungeheuern kämpfen, um zu uns zu gelangen?«, beharrte Claus.
    Herrmann ignorierte den Einwand. »Lebt sie noch?«, fragte er Jan. Der Arzt war längst fort, er musste zu seinem Kranken gegangen sein.
    Als Jan zu keinem klaren Ergebnis kam, überwand er seine Scheu und legte seine Hand zwischen ihre Brüste, um nach dem Herzschlag zu suchen. Er spürte, wie sich der Brustkorb schwach hob und senkte, und sah erleichtert auf. »Sie lebt.«
    Die Eiskristalle an ihren Wimpern waren geschmolzen und rannen die Schläfen hinab, so dass es aussah, als ob die Fremde weinte.
    Schon holte ihn die Ratlosigkeit wieder ein. Was tat man mit halberfrorenen Weibern, noch dazu, wenn ihre Kleider zerrissen waren und mehr als genug Haut entblößten, um die Gedanken der Männer auf Abwege zu bringen? Zumal ihm von den Älteren ständig vorgeworfen wurde, nichts anderes als Mädchen im Kopf zu haben.
    Als hätte die Unbekannte sein stummes Flehen erraten, schlug sie plötzlich die Augen auf. Sie blickte verwirrt um sich, öffnete den Mund, als ob sie etwas sagen oder fragen wollte, doch plötzlich verzerrte sie das Gesicht vor Schmerz und begann, krampfartig Hände und Füße zu schütteln.
    »Meine Hände! Meine Hände!«, schrie sie. »Es tut so weh! Helft mir!«
    »Sie ist
doch
eine Eisfee – und nun schmilzt sie. Nehmt sie weg vom Feuer!«, rief Claus und bekreuzigte sich.
    Jan zog sie von der Feuerstelle, aber nicht, weil er dem Jüngeren glaubte, sondern weil er sich erinnerte, wie sehr es schmerzte, wenn er seine nach einer Wache halberfrorenen Gliedmaßen zu nah über dem Feuer erwärmte. Warum hatte er nicht gleich daran gedacht?
    Und wo blieb nur der Stadtphysicus?
    Er versuchte, der Fremden Hände und Arme zu reiben, doch das schien alles noch schlimmer zu machen. Schließlich nahm er ihre krampfhaft zuckenden Hände zwischen seine. »Ruhig, nur ruhig. Es wird gleich besser.«
    Erst als der Schmerz anscheinend nachließ und die hektisch flatternden Bewegungen aufhörten, wagte er, ihr etwas zu trinken einzuflößen.
    Herrmann allerdings fand, nun sei es genug der Rücksichtnahme. »Wer bist du, und was treibt dich bei diesem Wetter in die Nacht?«, fragte er ungeduldig. »Weißt du etwas vom Heer des Königs?«
    Die Fremde blickte erneut irritiert um sich, dann hakte sich ihr Blick an Herrmann fest. Erst allmählich schien sie zu begreifen, wo sie war und was der Fragesteller von ihr wollte.
    Voller Scham über ihr Äußeres raffte sie den Umhang fester um sich, den Jan über sie gelegt hatte, zog die Beine an und kauerte sich unter dem wärmenden Filz zusammen.
    »Ich heiße Sibylla«, begann sie, um sofort wieder zu stocken.
    Sibylla war nicht ihr wirklicher Name, den hatte sie längst vergessen, doch diesen Namen hatten ihr die Fahrensleute gegeben, mit denen sie durchs Land gezogen war. Aber die Gaukler – für sie ihre Familie – waren alle tot, erschlagen von den Männern des Königs.
    Sie konnte die Bilder
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