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Blinder Hass

Titel: Blinder Hass
Autoren: John Sandford
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tat.
    Als Sohn eines presbyterianischen Pfarrers und einer Professorin für Maschinenbau, die in Gott den größten Ingenieur sah und genauso gläubig war wie ihr Mann, war Virgil jeden Abend vor dem Schlafengehen auf die Knie gefallen und hatte gebetet - bis zur ersten Nacht, die er im Wohnheim der Universität von Minnesota verbrachte. Da war es ihm zu peinlich gewesen, auf die Knie zu fallen, und er hatte die ganze Nacht gezittert und gebebt aus Furcht, dass die Welt untergehen würde, weil er seine Gebete nicht gesprochen hatte.
    Bis Weihnachten hatte er wie die meisten Erstsemester die Religion abgehakt und lief mit einem Exemplar von Camus’ Der Fremde unter dem Arm auf dem Campus herum, weil er hoffte, Frauen mit langen dunklen Haaren und voller Geheimnisse, die aufgedeckt werden müssten, zu beeindrucken.
    Er hatte nie zur Religion zurückgefunden, aber er hatte etwas von seinem Glauben wiedererlangt. Das war ganz plötzlich gekommen, bei einem informellen Gespräch im Quartier eines unverheirateten Armeeoffiziers, als einer der Anwesenden sich als Atheist geoutet hatte. Ein anderer Mann, der nach Virgils Einschätzung nicht allzu intelligent war, hatte in leidenschaftlichem Tonfall erklärt: »Da liegst du aber falsch, sieh dir doch nur all die Wunder dieser Welt an. Es gibt so viele Wunder.«
    Virgil, der auf dem Land aufgewachsen war, wo es tatsächlich Wunder gab, und Ökologie studiert hatte, wo er auf noch mehr Wunder gestoßen war, hatte die Aussage dieses nicht allzu intelligenten Gläubigen überzeugt. Es gab tatsächlich so viele Wunder. Er gelangte zu der Auffassung, dass Atheisten meist in kleinen, von Menschen gemachten Räumen arbeiteten, mit Tafeln, Computern und Fastfood. Sie glaubten nicht an Wunder, weil sie nie welche sahen.
    So kam der Glaube zu ihm zurück, aber es war ein merkwürdiger Glaube mit einem Gott, den sein Vater nicht akzeptiert hätte. Virgil dachte fast jede Nacht über diesen Gott nach, über seinen Sinn für Humor und die offenkundige Tatsache, dass er Regeln aufgestellt hatte, die selbst er nicht brechen konnte.
    Um ein Uhr morgens, nachdem er eine Weile über Gott nachgedacht hatte, schlief Virgil ein und träumte von Männern, die im Dunkeln in Motelzimmern saßen, heimlich Marlboros rauchten und ihre Katzen beobachteten, die verbotenerweise im Zimmer herumgeisterten.

DREI
    Dienstagmorgen
    Der alte Teil von Bluestem, das nach einem Präriegras benannt war, lag fast eine Meile nördlich der I-90. Im Laufe der Jahre hatten sich in dem Gebiet zwischen Interstate und Stadt Filialen der üblichen Ketten angesiedelt: McDonald’s, Subway, Country Kitchen, Pizza Hut, Taco John’s; ein Holiday Inn, ein Comfort Inn, ein Motel 6; vier oder fünf Tankstellen mit Mini-Märkten, eine Ford-Niederlassung und zwei Gebrauchtwagenhändler. Außerdem gab es etwa ein halbes Dutzend Werkstätten für landwirtschaftliche Fahrzeuge und Trucks, vor denen alte Reifen aufgestapelt waren und deren Zufahrten vom Regen voller schlammiger Pfützen waren.
    Der alte Teil der Stadt war ansehnlicher. Die Wohngegenden waren von Häusern aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert geprägt, jedes anders als das nächste und alle sehr groß mit Veranden und Höfen, in denen Hollywoodschaukeln standen. Der Einkaufsbereich auf der Main Street war vier Blocks lang und bestand aus ein- bis zweistöckigen Gebäuden aus einem gelblichen Stein, darunter ein Vorkriegskino, in dem immer noch Filme gezeigt wurden, sowie alle möglichen Firmen und Läden, die man in einem Wal-Mart nicht fand: Anwaltspraxen, Versicherungsagenturen, zu viele Geschenkboutiquen und Antiquitätenläden, ein paar kleinere Bekleidungsgeschäfte, vier Restaurants und einen Drugstore.
    Das Gerichtsgebäude war zwei Blocks von der Main Street entfernt und wurde immer noch als Gericht benutzt. In den meisten Kleinstädten waren die Gerichtsgebäude aufgegeben und durch anonyme Verwaltungs- und Justizgebäude außerhalb der Stadt ersetzt worden.
     
    Virgil parkte auf dem Parkplatz des Gerichtsgebäudes, ging an dem Kriegerdenkmal vorbei - dreizehn junge Männer aus dem Stark County waren im Ersten und Zweiten Weltkrieg, in Korea, Vietnam und im Irak ums Leben gekommen -, betrat das Gebäude und ging den langen Flur entlang zum Büro des Sheriffs.
    Strykers Sekretärin war eine korpulente Frau um die fünfzig mit asymmetrisch geschnittenen perlblonden Haaren, die im Nacken wie die Stacheln eines Stachelschweins abstanden. Sie blinzelte Virgil an,
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