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Blinde Angst

Titel: Blinde Angst
Autoren: George D Shuman
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eventuell zu helfen?, fragte sie sich.
    »Okay«. Aber ihr Ruf verpuffte im Heulen des Windes. Sie zog leicht an dem Seil zwischen ihnen, und im nächsten Augenblick spürte sie seine Antwort. Es fühlte sich gut an, eine solche fühlbare Verbindung zu einem anderen menschlichen Wesen zu haben.
    Wenn sie es wenigstens bis zum Hochlager in 5250 Meter Höhe schafften, dann konnten sie vielleicht die Nacht überstehen. Die armen Schweine über dem Archdeacon's Tower hatten noch einen tückischen Bergkamm zu überwinden. Sie würden keine Stunde mehr durchhalten, wenn die Sonne erst unter dem Horizont verschwunden war und die Temperatur auf minus fünfzig Grad fiel. Allison konnte sich nicht vorstellen, eine Nacht des Grauens im orkanartigen Wind verbringen zu müssen, mit vier Leuten verbunden, von denen jeder plötzlich in Panik geraten und einen für alle tödlichen Fehler machen konnte.
    Allison hatte nur zwei der anderen Bergsteiger selbst getroffen, die noch oben am Gipfel waren, beides Frauen aus British Columbia. Sie hatten sich noch am Morgen Geschichten von Klettertouren in den kanadischen Rockies erzählt, als sie beim Sonnenaufgang zusammen Suppe aßen. Eine der beiden hieß auch Allison – ein Zufall, über den sie herzlich gelacht hatten. Doch jetzt sah sie das Gesicht der Frau ständig vor sich und konnte es nicht mehr aus ihren Gedanken verbannen.
    Plötzlich zog es ihr die Füße weg, und sie begann zu rutschen, während sie verzweifelt nach dem Eispickel an ihrem Gürtel griff. Kurz vor dem Absturz schlug sie ihn mit beiden Händen in die Wand, um den Fall zu bremsen. Einen Moment lang hing sie mit ausgestreckten Armen da, mit beiden Händen den Griff umklammernd, doch dann löste sich der Pickel, und sie stürzte und schrammte mit dem Kinn über den eisbedeckten Granit, bis sie mit den Stiefeln gegen etwas Festes stieß.
    Sie versuchte sich den Schnee aus den Augen zu blinzeln, um durch die weiße Wand vor ihr was zu sehen – und da war Sergios violetter Schneeanzug. Er schlang die Arme um ihre Taille und drückte sein Gesicht an das ihre – und es fühlte sich kalt an.
    »Bist du okay?«
    Sie versuchte zu sprechen, doch es wollten keine Worte herauskommen. Ihr Mund füllte sich mit warmem Blut, und Tränen traten ihr in die Augen.
    Er half ihr zu stehen; durch die dunklen Schneebrillen konnten sie einander nicht in die Augen sehen. Sie legte eine behandschuhte Hand auf sein Herz, und er nickte. Dann gab er ihr seinen Eispickel, drehte sich um und zeigte nach unten. Schließlich griff er das Seil und stieg in den Schneesturm hinab. Allison nickte, während er verschwand. Sie hatten keine Zeit zum Nachdenken.
    Und doch dachte Allison nach. Sie hatte die vergangene Nacht in Sergios Schlafsack verbracht. Es war das erste und einzige Mal, dass er mehr als zehn Worte mit ihr gesprochen hatte, seit sie sich vor acht Tagen in der kleinen Ortschaft Talkeetna begegnet waren, wo Solokletterer mit Bergteams zusammentreffen. Allison hatte ihn zuerst für einen von diesen eingebildeten gut aussehenden Playboys gehalten, die über jede Menge Zeit und Geld verfügten. Sie hatte ihn oben auf dem Berg sogar damit aufgezogen, um irgendeine Reaktion zu provozieren, bis sie einmal, als er sich im Zelt unbeobachtet fühlte, diesen Ausdruck der Verzweiflung in seinem Gesicht sah. Da war ihr klar geworden, dass Sergio nicht der Mensch war, als der er sich nach außen gab. Er war nicht nach Alaska gekommen, um den Berg zu bezwingen. Er war hierhergekommen, weil er vor etwas davonlief – eine verlorene Liebe, eine gescheiterte Ehe, irgendeine tiefe Enttäuschung in seinem Leben?
    Sie kamen nicht dazu, darüber zu sprechen, und vielleicht, dachte sie jetzt, würden sie es auch niemals tun.
    Sie erinnerte sich, wie er in dieser Nacht im Schlafsack seine Lippen an ihren Hals gedrückt hatte. Er hatte sogar geweint, nachdem sie sich geliebt hatten. Am liebsten würde er den Berg gar nicht mehr verlassen, hatte er ihr gesagt. Sie spürte seine warmen Tränen feucht an ihrem Hals. Er meinte, er wolle nie mehr der sein, der er einmal war.
    Denali-Nationalpark
Fünf Tage später
    Grelles Sonnenlicht wurde von den breiten Rotorblättern des HH-60 Pave Hawk zurückgeworfen und erzeugte einen Stroboskop-Effekt im Laderaum des Helikopters. Captain Metcalf, der Sherry Moore gegenübersaß, schirmte seine Augen vor den Lichtblitzen ab, die von ihrer Schneebrille reflektiert wurden.
    »Gletscher«, sagte er und beugte sich bis zum Rand
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