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Blinde Angst

Titel: Blinde Angst
Autoren: George D Shuman
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Metcalf das im Kopf hatte, wenn er an seine Schwester dachte.
    Sherry hatte eigentlich nur in das relativ sichere Medical Camp fliegen sollen, um vielleicht etwas von den Leichen der toten Bergsteiger zu erfahren, die dort in einem Zelt lagen – doch dann überredete Metcalf sie, einen Schneeanzug anzuziehen und sich zu dem Toten in der Wand abzuseilen. Metcalf war kein Mann vieler Worte, aber er war dennoch sehr überzeugend. Er strahlte eine gewisse Ruhe und Sicherheit aus, die ansteckend wirkte. Sie wusste jetzt, warum Brigham sich nicht gegen ihren Einsatz ausgesprochen hatte. Man brauchte nicht immer Augen, um einen Menschen einschätzen zu können. Wenn jemand ein Gefühl von Kompetenz vermittelte, so konnte man das auch mitbekommen, ohne denjenigen zu sehen. Der Mann war immerhin ein Angehöriger der Navy SEALs, was sowieso gewisse Fähigkeiten voraussetzte – doch Metcalf strahlte etwas aus, das weit über bloße Fähigkeiten hinausging.
    Der Plan wäre ganz einfach, sagte er ihr. Der Pilot des Pave Hawk würde sie über der Headwall in knapp 5000 Meter Höhe absetzen. Von dort würden sie sich an einem fixierten Seil gut hundert Meter abseilen, um zu dem toten Bergsteiger zu gelangen. Es kam nicht infrage, die Leiche zu bergen – dafür reichte die Zeit nicht, außerdem konnte Metcalf nicht gleichzeitig auf eine blinde Frau und eine Leiche achten. Aber falls der Tote wirklich zu Allison Metcalfs Team gehört hatte, dann konnte Metcalf vielleicht die Botschaft entziffern, die der Kletterer auf der Felswand hinterlassen hatte, und die Information an seine Männer weitergeben.
    Sherry ging meistens mit einem Gefühl des Zweifels in solche Situationen. Was ein Mensch in den letzten Sekunden seines Lebens dachte, war nicht immer das, was die Leute, die sie anheuerten, hören wollten. Niemand kennt den Augenblick seines Todes, und dementsprechend zufällig erscheinen oft die Gedanken, die sich in den letzten Augenblicken ins Kurzzeitgedächtnis drängen. Dies gilt umso mehr, wenn der Tod zwar unvermeidlich ist, das Sterben aber längere Zeit dauert. Die Leute machen oft das ganze Spektrum der Gefühlswelten durch, während sie ihre Reise durch das Leben Revue passieren lassen.
    Der Mann, der in der Felswand hing, war mit Sicherheit erfroren. Er dachte am Ende wahrscheinlich an die Menschen, die er liebte – das taten die meisten –, aber er beschäftigte sich sicher auch mit seiner konkreten Situation – vor allem der Frage, wie er das Seil wieder erreichen konnte, um sich aufzurichten.
    Selbst wenn er noch imstande war, sich auf die Botschaft zu konzentrieren, die er zu hinterlassen versuchte, konnte sich Sherry nicht vorstellen, dass sein Hinweis präzise und deutlich genug war, um damit ein Team verschollener Bergsteiger aufzufinden, die irgendwo da oben in einer Schneehöhle vergraben waren. Genauso wenig konnte sie sich vorstellen, wie er in einem so heftigen Sturm den Weg zurück hätte finden sollen.
    Ihr kam der Gedanke, dass er vielleicht gar nicht mehr die Absicht gehabt hatte zurückzukehren. Dass er gewusst hatte, dass es für ihn kein Zurück mehr gab, sodass die Botschaft an der Wand ein Akt der absoluten Selbstlosigkeit war.
    »Der Kahiltna-Gletscher«, hörte sie die blecherne Stimme des Piloten im Kopfhörer. Metcalf tippte an ihren Helm, und Sherry nickte, um zu signalisieren, dass sie es gehört hatte und dass ihre Ausrüstung funktionierte.
    Sie zog das Mikrofon vom Mund weg, um mit Captain Metcalf zu sprechen, ohne dass jemand mithörte. »Kennen Sie den Admiral gut?« Brigham hatte Senator Metcalf ihr gegenüber nie erwähnt. Sie wusste, dass Brigham Freunde im Kongress hatte, sie hatte sogar an einem der seltenen Abende, an denen er Gäste zu sich nach Hause einlud, eine Frau von einer Geburtstagskarte sprechen gehört, die das Siegel des Präsidenten trug.
    »Mehr vom Hörensagen, Ma'am«, antwortete Metcalf.
    »Vom Hörensagen?«, erwiderte sie überrascht. Sherry hatte Brigham nie als einen Menschen gesehen, über den die Leute redeten.
    Metcalf verfiel wieder in sein stoisches Schweigen. Abgesehen von der kurzen Beschreibung seiner Bitte an sie hatte er seit dem Aufbruch in Anchorage nur mit seinen Männern gesprochen, und auch das stets in weniger als drei Worten. Er schien es jedenfalls nicht zu mögen, wenn man ihm Fragen stellte. Offenbar war er es nicht gewohnt, und es schien ihm irgendwie unbequem zu sein.
    »Dann sind Sie ihm also nie begegnet?«, konnte Sherry nicht umhin,
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