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Blind vor Wut

Blind vor Wut

Titel: Blind vor Wut
Autoren: J Thompson
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Mama Carol? Ich glaube, ich lehne mich besser einen Augenblick an die Wand.«
    Sie nahm den Schlüssel und schloss ab. Als sie sich umdrehen wollte, schlug ich vor, sie solle lieber noch mal kräftig rütteln, um sicherzugehen, dass wirklich abgeschlossen sei. Das tat sie und stellte damit unbestreitbar fest, dass sie die Tür, zu der nur sie einen Schlüssel besaß, tatsächlich abgeschlossen hatte.
    Wir gingen zurück in unsere Wohnung. Ich ließ sie an der Tür stehen und sagte, ich würde sehr bald wiederkommen. Sie machte eine Handbewegung, als wolle sie mich zurückhalten. Dann ließ sie ein wenig die Schultern fallen, senkte den honigblonden Kopf und trat in die stets düstere Wohnung.
    Das Schloss verriegelte sich mit einem zögerlichen Klicken, sperrte die Welt voller Lachen und Sonnenlicht aus, die Carol so mochte. Nun steckte sie in einer Welt des Dämmers und des Todes.
    Zwei Tote. Eine fehlte noch. In ihrem Zustand würde es nicht mehr lange dauern. Keineswegs so lang, wie ich es gern gehabt hätte. Längst nicht so lang, wie Mama gebraucht hatte. Denn Mama hatte etwas gehabt, woran sie sich klammern konnte und das Carol fehlte: Hass.
    Carol konnte nicht hassen.
    Ich kehrte zum Mietshaus der Hadleys zurück und ging zu dessen Rückseite, wo Itzop bereits wartete. Er hatte ein kleines Bündel unter dem Arm. In der anderen Hand hielt er die Zügel eines sehr alten Pferdes.
    Es handelte sich um das fraglos älteste Pferd der Welt; der Rücken war schon so durchgebogen, dass der Bauch fast den Boden berührte. Ich nahm Itzop das Bündel ab und ließ mir von ihm die Zügel geben. Er umfasste kurz den Hals des Tieres, klopfte es sanft und sprach zärtlich mit ihm. Dann drehte er sich zu mir um und warf mir einen strengen und zugleich flehenden Blick zu.
    »Du hast es versprochen, Herbie. Du hast versprochen, dass du ihm nicht wehtun wirst.«
    »Und ich halte meine Versprechen«, erklärte ich. »Also, jetzt geh, und mach deinen Job.«
    »Und was hast du mit ihm vor, Herbie?«
    »Was soll ich schon mit ihm vorhaben, um Himmels willen? Was zum Teufel willst du überhaupt? Jetzt hau schon ab, bevor uns jemand sieht!«
    Er trottete zögerlich davon, murmelte, ich solle ja dem Pferd nichts tun. Ich ging ein paar Schritte die Seitengasse entlang zum Hintereingang des Gebäudes und drückte die Tür ein wenig auf. Ein paar Minuten vergingen. Ich wartete, sah den Hausflur entlang zum Haupteingang, wo der Pförtner eifrig Messing polierte. Nach weiteren ein, zwei Minuten blickte er fragend zu jemandem auf.
    »Ja bitte?«, sagte er zu der Person, die nicht zu sehen war. »Was wollen Sie, Mister?«
    »Was glauben Sie wohl?«, brüllte Itzop. »Warum, glauben Sie wohl, lasse ich meine Hose herunter?«
    »Aber, hören Sie … hören Sie mal …« Der Pförtner eilte hin, um Itzop davon abzuhalten, und verschwand ebenfalls aus meinem Blickfeld. »Das ist mein Bürgersteig! Sie können doch nicht …!«
    »Bringen Sie mir Klopapier!«, brüllte Itzop. »Ich brauche Klopapier!«
    Die Stimmen überschlugen sich wütend.
    Ich führte das Pferd zur Hintertür herein, zog es in den Lastenaufzug und fuhr hoch zur Wohnung der Hadleys.
    Sie hatten die Wohnung gemietet, nachdem das Baby auf die Welt gekommen war, ganz allein aus diesem Grund. Sie hatten dem Kind das beste Zimmer gegeben, es erst als Babyzimmer eingerichtet und dann verschiedene, dem jeweiligen Alter gemäße Gegenstände hinzugestellt.
    Es gab ein Schaukelpferd, Holzsoldaten und eine winzig kleine Schreibmaschine. Es war alles da, alles, was ein Kind sich in der unbeschreiblich kurzen Dauer seines Leben nur wünschen konnte. Und obwohl es schon so viele Jahre tot war, war alles noch so wie damals, als sein Lachen von den Wänden widerhallte.
    Ich glaube, es gibt nichts Stilleres als ein Zimmer, in dem mal ein Kind gewesen ist und nun nicht mehr ist. Ein Zimmer, aus dem es für immer verschwunden ist. Eine schmerzliche Stille, die unbeschreiblich außerweltliche Stille, wie sie auf das einsame Jaulen eines Hundes folgt, der sich verlaufen hat. Die nicht hinzunehmende Stille eines Herzens nach dem allerletzten Schlag. Die hungrig hoffnungsvolle Stille, die argwöhnisch wartende Stille, die schrecklich herzzerreißende Stille, die die Abwesenheit dessen kennzeichnet, das einzig dein war und dir nicht einfach so sinnlos weggenommen werden durfte. Das kann nicht sein! Es kommt doch sicher wieder. Sicher, in Sünde geboren zu sein heißt, selbst gesündigt zu haben, und es
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