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Blackout

Blackout

Titel: Blackout
Autoren: Jonathan Kellerman
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aber auch von den klassischen Zeichen der Depression - Appetitlosigkeit, Unruhe, Zurückgezogenheit, Unwertsgefühle.
    Die Eltern machten sich schwere Vorwürfe und wurden von Schuldgefühlen gepeinigt, wenn sie die anklagenden Blicke ihrer Familie oder ihrer Freunde sahen oder zu sehen glaubten. Eheleute machten sich gegenseitig Vorwürfe. Manche von ihnen verwöhnten die betroffenen Kinder, was die Unsicherheit der Kleinen noch erhöhte und ihre Geschwister eifersüchtig machte. Später gaben die Brüder oder Schwestern von einigen der betroffenen Kinder zu, sie wünschten, daß sie auch belästigt würden, um danach diese Sonderbehandlung zu erhalten. Und zugleich empfanden sie wiederum Schuldgefühle wegen solcher Gedanken. Ganze Familien zerbrachen daran, aber ihre Leiden wurden größtenteils vom Blutdurst der Öffentlichkeit nach Hickles Kopf überlagert. Und die Familien wären wohl für immer in Vergessenheit geraten, belastet mit ihrer Verwirrung, der Schuld und der Angst, wenn nicht die Großtante von einem der Opfer ein menschenfreundliches Mitglied im Aufsichtsrat des Western Pediatric Medical Centers gewesen wäre. Sie fragte sich - und zwar ziemlich lautstark-, warum, zum Teufel, das Krankenhaus nichts unternahm, und was mit dem Sendungsauftrag dieser Institution eigentlich los sei, wenn sie sich in einem solchen Fall nicht betroffen fühlte. Der Vorsitzende des Aufsichtsrats machte einen tiefen Kotau und sah zugleich die Chance, etwas gute Presse zu bekommen. Beim letzten Bericht über das Western Peds war es um Salmonellen im Krautsalat der Cafeteria gegangen, also wäre positive Public Relations höchst willkommen gewesen.
    Der medizinische Direktor gab eine Presseerklärung heraus, bei der ein psychologisches Rehabilitationsprogramm für die Opfer von Stuart Hickle angekündigt wurde, und der Therapeut sollte ich sein. Ich erfuhr es übrigens erst durch den Artikel in der Los Angeles Times.
    Als ich am nachten Morgen in sein Büro kam, wurde ich gleich zu ihm hineingeführt. Der Direktor, ein Kinderchirurg, der seit zwanzig Jahren keine Operation mehr ausgeführt und die Selbstgefälligkeit eines gutgenährten Bürokraten erlangt hatte, saß hinter einem blankpolierten Schreibtisch von der Größe eines Hockeyfelds und lächelte.
    »Was soll das heißen, Henry?« Ich hielt die Zeitung hoch. »Setzen Sie sich, Alex. Ich wollte Sie eben anrufen. Der Aufsichtsrat hat entschieden, daß Sie perfekt für den Job geeignet sind. Es mußte sehr schnell gehen danach, das verstehen Sie sicher.«
    »Ich fühle mich geschmeichelt.«
    »Der Aufsichtsrat erinnert sich noch gut an die hervorragende Arbeit, die Sie bei den Brownings geleistet haben.«
    »Den Brownells.«
    »Ja, meinetwegen.«
    Die fünf Brownell-Kinder hatten den Absturz einer Privatmaschine überlebt, bei dem ihre Eltern ums Leben gekommen waren. Sie waren körperlich und psychologisch traumatisiert - unterkühlt, halb verhungert, ohne Erinnerungsvermögen, sprachlos. Ich hatte zwei Monate mit ihnen gearbeitet, und die Zeitungen hatten darüber berichtet.
    »Wissen Sie, Alex«, sagte der Direktor, »wenn man wie ich stets dabei ist, die Hochtechnologie und das Heldentum zu synthetisieren, aus denen sich die moderne Medizin zusammensetzt, verliert man manchmal den Blick für den menschlichen Faktor.«
    Es war eine großartige kleine Rede. Ich hoffte, er erinnerte sich daran, wenn die Etatbesprechungen des kommenden Jahres fällig wurden.
    Er fuhr fort, mir meine Streicheleinheiten zu verpassen, redete davon, daß das Krankenhaus ›in vorderster Front der humanitären Anstrengungen zu stehen habe‹, lächelte dann und beugte sich nach vorn.
    »Außerdem dachte ich mir, daß darin bemerkenswertes wissenschaftliches Material liegen könnte - mindestens zwei oder drei Publikationen bis zum kommenden Juni.« Im Juni sollte ich eine volle Professorenstelle übernehmen. Der Direktor war auch beim Besetzungskomitee der medizinischen Hochschule.
    »Henry, ich fürchte fast, Sie appellieren an meine niedrigeren Instinkte.«
    »Vergessen Sie diese Befürchtung.« Er blinzelte verschmitzt. »Uns geht es vor allem darum, diesen armen, armen Kindern zu helfen.« Er schüttelte den Kopf. »Wirklich, eine widerliche Affäre. Dieser Mann gehörte kastriert.« Die Justiz des Chirurgen.
     
    Ich warf mich mit der üblichen Monomanie darauf, ein Behandlungsprogramm auszuarbeiten. Und ich erhielt die Erlaubnis, die Therapiesitzungen in meiner Privatpraxis abzuhalten,
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