Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Black Jesus

Black Jesus

Titel: Black Jesus
Autoren: Simone Felice
Vom Netzwerk:
wohl besser auf den Weg.« Ihre Hand zittert.
    Sie schiebt den rosafarbenen Sichtschutz wieder über den Helm, hebt eine Hand zum Gruß und humpelt zum Ausgang.
    Als sie fast an der Tür ist, sagt der Mann: »Was ist denn mit deinen Beinen passiert, wenn die Frage nicht zu indiskret ist.«
    Noch ein paar Schritte, und sie lehnt sich gegen die Tür, öffnet sie mit ihrem Körper und wird von einer Prise frischer Wüstenluft überrascht. Sie schiebt noch einmal den Sichtschutz hoch und atmet tief durch.
    »Gestern Nacht hat der Typ, mit dem ich zusammenlebe, mit einem Alu-Schläger auf sie eingeschlagen, bis ich bewusstlos auf dem Teppich lag. Er tat’s, weil ich die Aufnahmeprüfung der ›City Ballet Company‹ bestanden habe. Sie waren von meinem Auftritt hellauf begeistert. Sie hätten mich mal sehen sollen.«
    »Heilige Scheiße«, wispert der Mann.
    Mit ihrem Kopf zeigt sie aufs rechte Bein. »Ich hab gehört, wie es brach – wie ein trockener Stock am Strand. Er sagte: ›Ich bring dich um.‹ Dann sagte er: ›Ich liebe dich.‹ Dann lachte er wie eine Hyäne und zog seine Hosen runter. Als ich wach wurde, war er eingeschlafen, und ich machte mich aus dem Staub. Hab ein paar Sachen in den Rucksack gestopft und bin die Nacht durchgefahren. Haben Sie schon mal ’ne Million bleicher Windmühlen gesehen, die sich in der Dunkelheit drehen?«
    Der Mann schließt für einen Moment die Augen – als könne er so sehen, wie sie sich drehen. Aber alles, was er sieht, ist ein tiefes, schwarzes Loch – und eine Verzweiflung, der er heute nicht zu begegnen glaubte. »Pass auf dich auf«, ruft er ihr durch den leeren Laden nach, aber sie ist schon draußen in der Sonne und humpelt zu den Tanksäulen. Ein Trucker, der gerade Diesel getankt hat, kommt ihr entgegen, schaut sie von oben bis unten an und zwinkert ihr zu.
    »Menschen«, sagt der Mann zu seinem kleinen weißen Hund. »Wann zum Teufel werden sie endlich dazulernen?«
    Ein Himmel voller Rot. Staub auf der schmalen Landstraße, auf die sie vom Highway 180 eingebogen ist. Sie fährt 25 Meilen pro Stunde und klebt auf dem weißen Seitenstreifen. Schilder mit Zeichen wie »Petrified Forest National Park« kommen und gehen. Ein Souvenir-Shop. Ein brutal blauer Himmel. Die kalte Wüstennacht rückt mit jeder Meile näher und verbeißt sich in Finger und Nacken. Erinnerungen. Gas geben. Stimmen in ihrem Helm. Der Geruch von verbrannten Bremsbelägen. Ein Himmel wie ein verkohlter Saphir.
    Durch ihren rosafarbenen Sichtschutz sieht sie ein zusammengekauertes Etwas vor sich auf der Straße – vielleicht von einem Wagen oder Truck angefahren. Das Mädchen drosselt die Geschwindigkeit, kommt zum Halt, setzt die Füße auf den Boden und schaut auf den Körper. Es ist ein Bär. Ein kleiner. Ein junger. Und er lebt noch.
    Der Ausreißerin fröstelt. Sie schaut auf die endlose Straße zurück, auf der sie gekommen ist. Niemand zu sehen. Sie dreht sich wieder zu dem Häufchen Elend zu ihren Füßen, das in seinen eigenen Eingeweiden auf der Seite liegt. Es hat die Arme über der Brust verschränkt und die Knie an den Körper gezogen. Irgendetwas an seiner Haltung berührt das Mädchen so tief, dass es zu weinen beginnt.
    »Du armes Ding«, sagt sie und drückt ihren Sichtschutz nach oben. Tränen rinnen heiß über ihr Gesicht. Die Brust des Tieres hebt und senkt sich langsam. Seine wunderschönen Augen glänzen im Licht des Scheinwerfers – sie ist sich nicht ganz sicher, glaubt aber, dass es ihren Blick erwidert.
    Der braune Pelz ist mit Blut durchtränkt, als sie den Bären auf den Schotter des Straßenrands zieht. Ein glühender Schmerz steigt von ihrem Bein hinauf ins Hirn. In der Dunkelheit sitzt sie neben dem Tier und streichelt über seinen Schädel, der so gebrochen und deformiert ist wie ihr eigenes Bein.
    »Es ist alles in Ordnung«, sagt sie. »Du darfst jetzt gehen.« Das Tier blinzelt und zittert. »Du darfst jetzt ruhig gehen. Es muss einen besseren Ort geben als diesen.«

Lionel White
    LIONEL WHITE
    Gay Paris im Bundesstaat New York hat eine Tankstelle, von einem Araber betrieben, ein paar Kirchen, ein kleines Postamt aus Backstein und drei, vier »Bed & Breakfast«-Pensionen, die aber mehr oder minder abbruchreif sind: wucherndes Unkraut, Farbe, die vom Holz blättert, ein paar Bungalows hinter dem Haus, zerfetzte Fliegengitter – desolate Relikte aus einer anderen Zeit, dem lang vergangenen amerikanischen Sommer. Es gibt das Dairy Queen, das wir bereits
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher