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Black Jesus

Black Jesus

Titel: Black Jesus
Autoren: Simone Felice
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kennen, ein Altersheim und eine Drogenhölle am Ende der Straße, die alle geflissentlich ignorieren. An der Ampel steht ein Restaurant namens Shakespeare’s, daneben ein Feuerwehrhaus und ein verrostetes Metallschild, auf dem zu lesen ist: »Welcome To Gay Paris – Stay A While«.
    Als Kind war Lionel White still und schwächlich, und eines Sommers stellten sie ein riesiges Billboard auf, gleich neben dem Shakespeare’s, in der Mitte des Kaffs: Es zeigte den Marlboro-Mann auf seinem Pferd, den Revolver im Gürtel. Alle haben das Ungetüm gehasst und nannten es einen Schandfleck. Aber wer immer es aufgestellt hatte, wusste nur zu gut, dass eine Million Städter hier vorbeikommen würden – auf ihrem Weg zu den Seen, den Ski-Liften, dem jüdischen Ferienlager oder dem Camp der »Koreanischen Christen«, das sich zehn Meilen weiter am Fuße des Berges befand. Alle kamen hier durch, tankten vielleicht ihren Wagen auf, kauften ein Eis oder ließen notfalls einen neuen Reifen aufziehen. Gründe, hierzubleiben, gab es wirklich keine.
    Eines Tages also bezog der Marlboro-Mann seinen Thron und blickte arrogant auf die Einwohner von Gay Paris hinab: ein bizarres Wahrzeichen, das die Kinder mit Steinen bewarfen, während die Erwachsenen nur fluchend den Kopf schüttelten – wohl wissend, dass sie nichts dagegen unternehmen konnten.
    Meinten sie jedenfalls – bis auf einen. Er war eine echte Legende, Gott hab ihn selig. Man nannte ihn nur »Interstate«, weil er früher Fernfahrer war, der sich dann aber zum Prediger berufen fühlte. Er sprach auch gerne dem Alkohol zu und besaß einen drahtigen Körper und stahlblaue Augen, die sein Gesicht zum Leuchten brachten. Er trug Cowboystiefel, lebte in einem Campingwagen gleich neben der Tankstelle und pflegte seinen Ghettoblaster auf die kleine Veranda zu stellen, um dort Dolly Parton und Styx zu hören. Eines Abends, es war Ende August, ließ er den Ghettoblaster laufen, griff sich sein großkalibriges Gewehr und ging im Schlafanzug die Straße hinunter, wo er den Marlboro-Mann kurzerhand ins Jenseits beförderte. Als Joe, der Hilfssheriff, eintraf und ihm wohl oder übel die Handschellen anlegen musste, grinste er Interstate an und fragte, warum er das getan habe. Und Interstate grinste zurück und sagte: »Das Schwein hat zuerst gezogen.«
    Er verbrachte die Nacht im Gefängnis und kam mit einem Bußgeld davon, das er nie zahlte. Nach einer Weile wurde das Billboard komplett abgerissen – und das Leben ging wieder seinen gewohnten Gang. Ein paar Kinder fanden einen Teil des Cowboyhuts im Gras und brachten ihn zum »Shakespeare’s«, wo ihnen Mona ein paar Colas spendierte und das gute Stück über der Jukebox an der Wand befestigte – zusammen mit einer silbernen Plakette, auf der zu lesen war: »Don’t fuck with Interstate.«
    Frühmorgens konnte man ihn auf seiner Veranda sitzen sehen, wie er still vor sich hin paffte und den Morgenhimmel betrachtete, während Dolly Parton aus den Lautsprechern auf dem Geländer zwitscherte. Wenn’s was zu verdienen gab, beseelsorgte er auch mal das eine oder andere Schäfchen, doch letztes Jahr stellte man Lungenkrebs bei ihm fest, und weil er die Chemotherapie ablehnte, starb er an Halloween, seinem Geburtstag.
    Wer je einmal durch das Städtchen fuhr, konnte den Trailer, in dem Lionel aufwuchs, eigentlich nicht übersehen. Hellbraun und windschief stand er gleich hinter der Tankstelle – auf dem letzten Zipfel Bauland, bevor sich die Straße, immer dem Bach folgend, steil zum Berg hochschwingt.
    Und gleich bei dem Trailer, unter einem Flickwerk von Zeltplanen und provisorischen Sonnendächern, konnte man auch »Fat Debbie’s« ganzjährigen Flohmarkt finden – ein sich ständig veränderndes Durcheinander von Trödel und Krimskrams, das auf wackligen Tischen oder direkt auf dem Boden stand, von Haken und Kleiderbügeln hing oder in bauchigen Körben verstaut war. Jedes einzelne Teil hatte ein Preisschildchen – ein in Debbies erstaunlich eleganter Handschrift ausgezeichnetes Stück Krepppapier –, um dem Schnäppchenjäger einen Weg durch das Labyrinth des nutzlosen Nippes zu weisen. So sollte man allerdings nicht in Debbies Anwesenheit sprechen: Man würde sich umgehend eine Ohrfeige einfangen. In ihren Augen bietet ihr Flohmarkt den gleichen Charme, das gleiche raunende Mysterium wie, sagen wir, ein Seide- und Gewürz-Basar, wie man ihn früher vielleicht im Heiligen Land oder auf einem geschäftigen Markt im hintersten
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