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Black Jesus

Black Jesus

Titel: Black Jesus
Autoren: Simone Felice
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der Nase, die Hände weit ausgestreckt, tastet sich an Kisten vorbei und Kleiderständern, den Bilderrahmen, einer Gitarre, einer Schaufensterpuppe und einem Fahrradreifen, um im Dunkeln den Ausgang zum Parkplatz zu finden, wo seine Mutter auf ihn wartet. Als sie ihn sieht, setzt sie die bemalten Teetassen ab, mit denen sie sich gerade beschäftigt hat, und nimmt ihn an die Hand. Diesmal lässt er sie gewähren und ihn die Stufen hinab zum Flohmarkt führen, wo ein geflochtener Schaukelstuhl im Sommerwind leicht hin- und herschaukelt.
    »Nehmen Sie Platz, Euer Ehren«, sagt Debbie zu ihrem Jungen.
    »Wo soll ich mich denn hinsetzen?«
    Sie nimmt seine Hand und legt sie auf die Armlehne. »Er ist schon ziemlich alt, aber zumindest hast du jetzt einen Grund, in meiner Nähe zu sein.«
    »Genau das, wovon ich immer geträumt habe«, mosert er und lässt sich auf den Stuhl nieder. Sein Bizeps spannt sich, als er sich auf den Armlehnen abstützt.
    »Mach’s nur«, hört er seine Mutter sagen.
    »Mach was?«
    »Schaukle. Es wird deinem Kopf guttun.«
    »Ist irgendwas nicht in Ordnung mit meinem Kopf, oder was?«
    »Alles ist in Ordnung. Ich will doch nur, dass du glücklich bist.«
    »Na, dann viel Erfolg«, sagt er. »Wo sind meine Schmerzmittel?«
    »Du hast alle genommen.«
    »Scheiße.«
    »Ich werd nach Catskill fahren und neue besorgen. Mach mich gleich auf den Weg.«
    Als sie weg ist, beginnt er zu schaukeln. Das Korbgeflecht im Rücken. Ein Tanklastwagen auf der Straße. Der undefinierbare Schmerz in seinen Schläfen – etwas, mit dem er schon zu leben gelernt hat. Seine Dornenkrone. Was würde er ohne ihn bloß machen?

Gloria
    GLORIA
    In der Raststätte beobachten sie, wie sie die Stufen hinaufhumpelt und die Tür öffnet – die Kellnerin und eine Handvoll Männer, die gerade beim Frühstück sitzen. Sie wären vermutlich aufgestanden und hätten ihr geholfen, aber sie wissen nicht so recht, was sie von dem seltsamen Besucher halten sollen. Es ist kurz vor Sonnenaufgang – jene Stunde, in der sich der neue Tag noch nicht eindeutig festgelegt hat, in der das Leben ein bisschen ist wie Theater und noch nicht ganz klar ist, welche Rolle du spielen wirst.
    Krumm und x-beinig steht das Mädchen mit ihrem Helm auf dem hellen Linoleum – wie ein Flüchtling aus dem Weltall, der den Erdenbewohnern schreckliche Nachrichten zu überbringen hat. Und all die Hasen, Eierkörbe und der ganze andere grelle Osterschmuck, der an Fäden von der Decke hängt, drehen sich trunken in dem Windstoß, den sie durch die Tür hineingelassen hat.
    Die Kellnerin zieht die angemalten Augenbrauen nach oben, während ihre Hand in der Kasse erstarrt ist. »Alles okay bei dir, Puppe?«, fragt sie.
    Die Puppe antwortet nicht. Stattdessen sackt sie langsam in sich zusammen, wie ein abrissreifes Gebäude nach der ersten Ladung Dynamit. Ein Mann, auf dessen T-Shirt ein heulender Koyote zu sehen ist, springt vom Tresen auf. Er bewegt sich wie ein Ringer, fängt das Mädchen in seinen Armen auf, bevor sie den Boden berührt, und schleift ihren leblosen Körper zur Tür. Die Kellnerin stemmt ihre Hände auf die Hüften. Die Anwesenden schauen sprachlos zu, die Gabeln vor den geöffneten Mündern.
    »Wo willst du denn mit ihr hin?«, fragt einer.
    »Mach dir keine Sorgen«, sagt der Mann mit dem Koyoten. »Sie gehört zu mir.«
    »Was ist mit deinen Rühreiern?«, bellt ihm die Kellnerin hinterher.
    »Schreib sie auf meinen Deckel«, sagt er – und ist mit dem Mädchen verschwunden.
    Als sie wieder zu sich kommt, sitzt sie in seinem Truck. Ein zerfleddertes indianisches Amulett hängt am Rückspiegel, ein Hufeisen am Armaturenbrett. Sie rumpeln einen Feldweg hinunter, durch das wackelnde Fenster sieht sie die Kiefern am Wegesrand. Schmerz und Übelkeit schießen durch ihren Körper. Leere Kaffeebecher und süßlich riechende Apfelkitschen liegen auf dem Boden, der von dem jungen Tageslicht geflutet wird.
    »Halt dein Bein still.«
    »Wohin fahren Sie mich?«
    »Die Straße rauf.«
    »Und wohin?«
    »Wo dich niemand finden kann. Ist es nicht das, was du suchst?«
    Im Kopf des Mädchens dreht sich alles. »Wo ist mein Moped?«, sagt sie.
    »Hinten auf dem Truck. Du wirst es noch brauchen, wenn wir dich wieder auf Vordermann gebracht haben.«
    »Sie wollen mir helfen?«
    »Ja.«
    »Und warum?«
    »Weil ich weiß, wie ein gehetztes Mädchen aussieht. Meine Mutter sah immer so aus: Ihre Augen waren ein einziges gefrorenes Fragezeichen, und niemand
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