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Black Jesus

Black Jesus

Titel: Black Jesus
Autoren: Simone Felice
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mutterseelenallein.«
    »Keine Familie?«
    »Niemanden, der mir etwas bedeutet.«
    »Ein Beau?«
    »Ein was?«
    »Ein Boyfriend.«
    »Er war es, der mich so zugerichtet hat.«
    Chuck weiß nicht, was er darauf antworten soll.
    »Er ist Kritiker bei der LA Times «, sagt sie leise und spürt, wie sich der Nebel in ihrem Kopf wieder zuzieht. »Ich glaube, er liebt mich. Er war nur außer sich, weil ich ein kommender Star im ›City Ballet‹ gewesen wäre und …«
    »Psst«, sagt der Mann. »Ruh dich erst mal aus. Du musst jetzt wirklich an deiner Genesung arbeiten.«
    »Was für ein kultiviertes Wort«, sagt sie mit einem gequälten Lächeln.
    »Ich bin auch ein kultivierter Bursche«, sagt er und spuckt demonstrativ in das Waschbecken an der Wand. »Dein Schienbein ist gebrochen. Du musst es hochlegen und dich erholen. Bis es dir besser geht, kannst du gerne hierbleiben. Dann kannst du wieder auf deinen Kinderroller steigen und die Sieben Meere befahren, so lang es dir Spaß macht. Tu mir nur den Gefallen und spiel nicht den Draufgänger.«
    Sie verbringt die Tage damit, auf den Krücken, die er ihr gegeben hat, das Gelände zu erforschen – bis hin zum Ende der Farm, wo ein elektrischer Zaun die Pferde von den Wölfen trennt. Umgeben vom Panorama der wild zerklüfteten Berge, scheint jeder Atemzug in ihren Lungen ein kleines Wunder zu sein. Charles P. kommt und geht wie ein Schatten. Sie entdeckt ihn manchmal in der Entfernung, hört seinen Truck in der Einfahrt, sieht ihn vor dem Fenster oder auf dem Feld, sie lächeln sich kurz an, winken einander zu oder wechseln ein Wort.
    An einem Nachmittag sitzt sie unter einem großen einsamen Baum, mit dem Rücken am Stamm, die Augen geschlossen gegen die helle Sonne auf ihrem Gesicht. Ein hochschwangeres Pferd hat sich unhörbar genähert, steht nun vor ihr, senkt seinen weißen Kopf und berührt mit seinem Maul die Augenbraue des Mädchens.
    »Huch.« Sie schreckt hoch, noch immer von der Sonne benommen. Sie öffnet die Augen und sieht das Tier hoch über sich stehen.
    Das Mädchen streckt vorsichtig seinen Arm aus und streichelt seinen Scheitel, die dichten, drahtigen Haare über den großen, dunklen Augen.
    »Wo kommst du denn her?«, fragt sie. Das Pferd, dankbar für die Berührung, schnaubt warme Luft durch seine feuchten Nüstern. »Wahrscheinlich fragst du dich das Gleiche?«, sagt sie, noch immer seinen Kopf streichelnd, und schaut zu einem fernen Punkt am Horizont. »Ich wurde an der Küste von Maine geboren, landete aber irgendwie in Venice Beach – von einem Ozean zum anderen. Mein richtiger Name ist Desiree, mein Bühnenname ist Desire, aber jetzt bin ich wohl Gloria. Was macht es schon für einen Unterschied? Diese Welt saugt ein Mädchen leer und pisst es wieder aus und fragt nicht mal nach seinem Namen.«
    In der nächsten Nacht wird sie von einem Traum geweckt und steht auf, um sich im Dunkeln anzuziehen. Sie sitzt auf dem Bett und starrt durch die Glastür hinaus. Außer ihrem Atem ist kein Geräusch zu hören.
    Sie schiebt sich den Rucksack auf den Rücken und die Krücken unter die Arme. Sie öffnet die gläserne Schiebetür und humpelt geräuschlos durch den Vorgarten zum Schuppen, wo ihr kleines, schwarzes Ross auf sie wartet. Sie setzt ihren Helm auf. Und dreht den Zündschlüssel.
    In ihrem Traum geht sie in einem verwunschenen Wald an einem rauschenden Bach entlang. Ihre nackten Füße gleiten über das Moos und wirbeln trockene Blätter hoch. Geruch von Kiefern. Sonne zwischen den Bäumen. Nach einer Weile sieht sie ein Mädchen, nicht älter als zehn, das auf einem Felsbrocken am Wasser sitzt und ihre Zehenspitzen hineintaucht. Die Träumerin muss ob der malerischen Szene lächeln. Wie eine kitschige Postkarte. Aber als sich das Kind umdreht und ihr in die Augen schaut, verwandelt sich ihr Lächeln in Schrecken. Sie weiß, dass dieses kleine Gesicht ihr eigenes ist, sie kennt die violetten Haarspangen, sie weiß instinktiv, wie brutal schnell die Zeit vergeht, sie kennt die stockende Stimme, die sie beim Aufwachen zwei Dinge fragt: »Warum hast du nichts unternommen? Was ist nur aus uns geworden?«

Lionel White
    LIONEL WHITE
    Am späten Nachmittag rollt Joe, der Hilfssheriff, in seinem rot-weißen Ford auf den Parkplatz des Dairy Queen. Er pfeift einen Pink-Floyd-Song im Radio mit, überprüft im Rückspiegel seine Frisur, schiebt die pomadisierten Haare in Form, öffnet die Tür des Streifenwagens und betritt – einen Schuhkarton unterm Arm
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