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Winterlicht

Winterlicht

Titel: Winterlicht
Autoren: Melina Marchetta
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Prolog

    V or langer Zeit im Frühling, kurz vor den Fünf Tagen des Unsagbaren, träumte Finnikin von den Felsen, dass er ein Pfund seines Fleisches opfern müsste, um das Königshaus von Lumatere zu retten.
    Die Götter sandten ihm diesen Traum am Vorabend des Erntemondfestes, als alle Bewohner des Königreichs beieinander versammelt waren und unter freiem Himmel auf der Festwiese schliefen. Für Finnikin war es die schönste Nacht des Jahres, denn da tanzten seine Landsleute ausgelassen und sagten Dank für ein Leben in Frieden und Wohlstand. Als der Morgen dämmerte und der Priesterkönig das Lied von Lumatere anstimmte, ließ die Freude in den Herzen der Menschen die ganze Welt erstrahlen. Und was war das für eine schöne Welt, bewohnt von den Völkern des Tieflands, des Waldes, der Felsen, der Berge und der Flüsse! Sie alle wussten sich wohl beschützt von ihrem geliebten König, seiner Königin und ihren fünf Kindern, deren Stammbaum bis zu den Göttern zurückreichte.
    Am nächsten Morgen erzählte Finnikin seinen beiden Freunden, Prinz Balthasar und Lucian aus den Bergen, seinen seltsamen Traum. Die drei Jungen vertrieben sich die Zeit damit, Olivenkerne in den Fluss zu spucken. Sie liebten es, den Morgen am Wasser zu verbringen und Finnikins Vater, dem Hauptmann der Königlichen Garde, dabei zuzusehen, wie er und seine Männer die Handelsware auf den Lastkähnen überprüften. Sie waren zutiefst beeindruckt von der Ernsthaftigkeit, mit der Hauptmann Trevanion seine Aufgabe erfüllte: das Königreich und seine Bewohner zu schützen. Man erzählte sich viel über seine Liebe zur sanften Lady Beatriss, die noch in diesem Jahr einem Kind das Leben schenken würde und ihren Stiefsohn Finnikin vergötterte, als wäre er ihr eigen Fleisch und Blut.
    Als Balthasar von dem Traum hörte, versicherte er seinen Freunden, dass Lumatere keinerlei Unheil widerfahren könne, solange sein Vater König sei. Lucian erklärte indessen, dass die Götter besser daran getan hätten, ihn zum Schutz der Königsfamilie zu bestimmen, da er ja immerhin schon neun Jahre alt sei und überdies einen ganzen Kopf größer als seine beiden Freunde. Und danach geriet der Traum für eine Weile in Vergessenheit.
    Die Nachmittage verbrachten Finnikin, Balthasar und Lucian im Wald von Lumatere. Sie malten sich aus, dass sie eines Tages den Silberwolf fangen würden. Der Sage nach konnte nur ein echter Krieger diese Bestie zur Strecke bringen, und sie waren davon überzeugt, dass Balthasar als Thronerbe von Lumatere diese Aufgabe zu meistern vermochte. Die drei Freunde brauchten den ganzen Sommer, um eine Falle zu graben, und als sie endlich fertig war, schleppten sie Balthasars jüngste Schwester Isaboe als Köder dorthin. Aber der Wolf ließ sich nie blicken.
    Als der Sommer in den Herbst überging und die Tage kürzer wurden, begann Finnikin sich Sorgen zu machen. Immer wenn er an seinen Traum dachte, zitterte er vor Angst. Nachts betete er zu Lagrami, der Göttin des Lichts, damit sie sein noch ungeborenes Geschwisterchen beschützte und auch Balthasar und seine vier Schwestern, ja sogar die Waldbewohner, obwohl diese eine andere Göttin verehrten und außerhalb der Mauern von Lumatere lebten. Eines Tages beschloss er, seine Gefährten zu einem feierlichen Eid zu bewegen.
    So kam es, dass sie den Felsen der drei Wunder am Rande von Finnikins Heimatdorf erklommen, sich ein Stück Fleisch aus dem Leib schnitten und der weinenden Isaboe eine Haarsträhne ausrissen, um vor der Göttin einen Schwur zu tun.
    Balthasar gelobte, das Königshaus von Lumatere mit seinem Leben zu verteidigen. Finnikin verpflichtete sich, ihrer aller Beschützer und Führer zu sein, solange er lebte. Lucian schwor, der Leuchtturm zu sein, bei dem sie in Zeiten der Not Schutz finden würden.
    An diesem Abend zogen sich Finnikin und Balthasar auf das flache Dach einer Dorfkate zurück und redeten wie immer über den Silberwolf und den mächtigen Kriegerkönig. Sie malten sich eine Zukunft aus, in der Balthasar König sein würde und Finnikin seine Leibwache befehligte. Finnikin blickte auf Isaboe hinunter, die zwischen ihnen beiden lag und schlief. Und obwohl sein Schenkel von der Gelöbniswunde schmerzte, war Ruhe in sein Herz eingekehrt, denn er wusste, er hatte das Richtige getan. Ja, Lumatere war gesegnet wie kein anderes Reich dieser Welt.
    Bis zu den Fünf Tagen des Unsagbaren.
    Jenen Tagen, in denen der König, die Königin und ihre drei ältesten Töchter im
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