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Angst

Angst

Titel: Angst
Autoren: Robert Harris
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Eins
    Lernen Sie von mir, wenn auch nicht durch Vorschriften, so doch wenigstens durch mein Beispiel, wie gefährlich Wissen ist und wieviel glücklicher derjenige Mensch, welcher seine Geburtsstadt für die Welt hält, als derjenige, der größer werden will, als es seine Natur erlaubt.
    Mary Shelley
Frankenstein , 1 8 18
    Dr. Alexander Hoffmann saß im Arbeitszimmer seines Genfer Hauses vor dem Kamin. Im Aschenbecher lag eine kalte, halb gerauchte Zigarre, der Schirm der verstellbaren Schreibtischlampe war weit nach vorn über seine Schulter gezogen. Er blätterte in The Expression of the Emotions in Man and Animals, einer englischen Erstausgabe von Charles Darwins Buch über den Ausdruck der Gemütsbewegungen bei Mensch und Tier. Hoffmann hörte nicht, dass die viktorianische Standuhr im Flur Mitternacht schlug. Ihm war auch nicht aufgefallen, dass das Feuer erloschen war. Seine außerordentliche Fähigkeit zur Konzentration galt allein dem Buch.
    Er wusste, dass es 1872 in London von John Murray & Co. veröffentlicht worden war, in einer Ausgabe mit siebentausend Exemplaren, gedruckt in zwei Auflagen. Er wusste auch, dass die zweite Auflage auf Seite 208 einen Druckfehler – »htat« – enthielt. Da sein eigenes Exemplar diesen Fehler nicht aufwies, nahm er an, dass es aus der ersten Auflage stammte, was seinen Wert beträchtlich erhöhte. Er drehte das Buch um und inspizierte den Rücken. Der Einband war original, grünes Leinen mit Goldschrift, der Rücken war oben und unten nur leicht ausgefranst. Das Buch entsprach dem, was man in der Branche ein »gutes Exemplar« nannte, und es war schätzungsweise 15 000 US -Dollar wert. Als die Märkte in New York geschlossen hatten, war Hoffmann vom Büro aus sofort nach Hause gefahren und hatte es kurz nach zehn Uhr zur Hand genommen. Sicherlich, er sammelte wissenschaftliche Erstausgaben, hatte im Internet nach dem Buch gesucht und tatsächlich vorgehabt, es zu kaufen. Seltsam war nur, dass er das Buch gar nicht bestellt hatte.
    Sein erster Gedanke war gewesen, dass seine Frau es gekauft hatte, was sie bestritten hatte, er aber zunächst nicht hatte glauben wollen. Während sie in der Küche herumgelaufen war und den Tisch gedeckt hatte, war er hinter ihr hergelaufen und hatte ihr das Buch unter die Nase gehalten.
    »Du hast es mir also nicht gekauft?«
    »Nein, Alex, tut mir leid. Was weiß ich, vielleicht hast du ja eine heimliche Verehrerin.«
    »Bist du dir ganz sicher? Wir haben nicht irgendeinen Jahrestag, und ich habe vergessen, dir etwas zu schenken?«
    »Herrgott, es ist nicht von mir, okay?«
    Dem Buch hatte kein Begleitschreiben beigelegen, nur die Visitenkarte eines holländischen Buchhändlers: Rosengarten & Nijenhuis, Antiquariat für wissenschaftliche & medizinische Bücher. Gegründet 1911. Prinsengracht 227, 1016 HN Amsterdam, Niederlande. Hoffmann hatte auf das Pedal des Mülleimers getreten und die Noppenfolie und das dicke braune Papier herausgeholt. Auf der leeren Hülle des Pakets klebte ein bedrucktes Etikett, die Adresse war korrekt: Dr. Alexander Hoffmann, Villa Clairmont, Chemin de Ruth 79, 1223 Cologny, Genf, Schweiz. Die Sendung war am Tag zuvor per Kurier aus Amsterdam eingetroffen.
    Sie hatten zusammen zu Abend gegessen – Fischpastete mit grünem Salat, die ihre Haushälterin zubereitet hatte, bevor sie nach Hause gegangen war. Danach hatte Gabrielle in der Küche noch ein paar besorgte Last-Minute-Anrufe wegen ihrer Ausstellung am nächsten Tag erledigt, während Hoffmann sich mit dem mysteriösen Buch in sein Arbeitszimmer zurückgezogen hatte.
    Als sie eine Stunde später den Kopf zur Tür hereinsteckte, um ihm zu sagen, dass sie zu Bett gehe, las er immer noch.
    »Komm bald nach, Liebling«, sagte sie. »Ich warte auf dich.«
    Er erwiderte nichts. Sie blieb noch einen Augenblick in der Tür stehen und betrachtete ihn. Mit seinen zweiundvierzig Jahren sah er immer noch jung aus. Ihm war nie bewusst gewesen, wie attraktiv er eigentlich war – eine, wie sie fand, ebenso anziehende wie seltene Eigenschaft bei einem Mann. Allerdings war er nicht anspruchslos, wie sie im Lauf der Zeit festgestellt hatte. Ganz im Gegenteil: Alles, was ihn intellektuell nicht forderte, war ihm in höchstem Maße gleichgültig. Ein Charakterzug, der ihm unter ihren Freunden den Ruf eines ausgesprochenen Rüpels eingebracht hatte. Aber auch das mochte sie. Sein außergewöhnlich jungenhaftes Amerikanergesicht war über das Buch gebeugt, die Brille hatte er
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