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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom
Autoren: Martin Keune
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entstellte Männer, die, so hatte es jedenfalls zunächst ausgesehen, wochenlang in ihren Sarkophagen die Ozeane überquert hatten, bevor sie in Berlin-Moabit an der Beusselbrücke in den bauchigen Lagerhäusern auf dem Hafengelände gelandet waren. Auf der Suche nach Hinweisen hatten sie ein ganzes Lager mit Diebesgut entdeckt; Hehlerware, die zum Teil vor Jahren schon beiseitegeschafft worden war und mit der man wie aus einem versteckten Kaufhaus vom Westhafen aus die halbe Stadt beliefert hatte. Ganze Luxusautomobile, palettenweise französischer Champagner, der nie in Amerika angekommen war, und umgekehrt tonnenweise Lieferungen aus den Staaten, die unterwegs verschwanden und ihre Adressaten auch hier in Berlin nie erreicht hatten. Sándor war sich vorgekommen wie der Weihnachtsmann, als er da tagelang in diesen Kathedralen von Lagerhallen über die wertvollen Gegenstände wachte, während alle, die in den letzten Jahren Lieferungen aus den Staaten als verloren angezeigt hatten, durch die vollgestopften Gänge wandelten und ihre verschwundenen Wertgegenstände aufstöberten und identifizierten. Alle bekamen unerwartete, verloren geglaubte Geschenke – außer ihm selbst. 28 Jahre war er damals jung gewesen, und die meisten dieser teuren Dinge hatte er im ganzen Leben noch nicht gesehen. In einem unbeobachteten Augenblick hatte auch er sich zwischen den Regalen herumgetrieben und gesichtet, was es dort abzustauben gab. Der langweilige Aufpasserjob musste doch, verdammt noch mal, irgendeinen kleinen Nutzen für ihn haben? In einer verplombten Holzkiste, deren Deckel die Jungs vom polizeilichen Ermittlungsdienst aufgebrochen hatten, war das Equipment einer ganzen Jazzband gewesen – erlesenste Musikinstrumente in einer Qualität, wie Sándor ihnen in seinem lausigen Weddinger Schalmeienorchester nie begegnet war. In einem schmalen Futteral, das mit blauem Samt ausgeschlagen war, lag die schönste Klarinette der Welt, ein kurzes, kraftstrotzendes Stück Holz, dessen Klappen verlockend in dem schrägen Sonnenlicht glänzten, das seitlich durch die Dachluken des Lagerhauses einfiel. Sándor Lehmann sah sich um. Johnny Dodds, Artie Shaw, Sidney Bechet: Solche Männer spielten auf einem Instrument wie diesem. Das Ding war purer Sex. Er würde einer solchen Klarinette nie mehr näher kommen als jetzt, in dieser einen unbeobachteten Minute. Schnell klappte er das Futteral wieder zu, legte es vor der Kiste auf den Boden und schob es mit der Schuhspitze unter die Palette, auf der die Überseekiste stand. Dorthin konnte das Ding auch zufällig gerutscht sein, und wenn der Besitzer sein Hab und Gut abgeholt hätte – falls es überhaupt einen Besitzer gab; manche Güter blieben einfach hier, weil die Eigentümer selbst Kriminelle waren oder tot oder längst weitergezogen –, wenn die Kiste abgeholt würde, könnte er in Ruhe zurückkommen und die Klarinette holen. Sándor sah sich noch mal um; hatte es ein Geräusch gegeben zwischen den Regalen? Nein. Niemand war da. Er ging. Er ging vielleicht zehn Meter weit, dann blieb er stehen. Noch verlockender als der Wunsch, dieses Wunderinstrument zu besitzen, war die Vorstellung, darauf zu spielen. Er sah sich noch einmal um und ging zurück, angelte die Klarinettenschatulle unter der Palette hervor und klappte das schwarze Etui erneut auf. Das schwarze Holz war kühl von der Kälte des Lagerhauses; das Mundstück war etwas trocken, aber die Klappen öffneten und schlossen sich mit einem sanften Ticken und reibungslos. Sándor führte das Instrument an die Lippen und hauchte hinein, ein langer, sanfter Ton, an den er einen meckernden Schnörkel hängte, wie um gegen die Stille des Lagerhauses zu protestieren. Ein kleiner Schlenker, schon spielte er ein simples Thema, dreimal, viermal variiert, das in ein kurios purzelndes Solo mündete. Sándor war hingerissen und vergaß den Ort und seine Rolle hier im Lagerhaus; er war der Mann mit der Klarinette, sonst gar nichts. Er spielte, spielte nach langen Jahren mal wieder, erkundete mit den Tönen seine eigene Erinnerung, das Echo der gewölbten Hallendecke ließ die Klarinette jubeln und zwitschern, und spielte – und als er das Instrument absetzte mit sirrenden Lippen und ohne Atem, hatte er Tränen in den Augen.
    Jemand applaudierte. Ein einsames, entschlossenes Klatschen hinter einer der Kisten. Sándor
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