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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom
Autoren: Martin Keune
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Hornbrille, die mancher Karnevalsmaske zur Ehre gereicht hätte –, Fuhs hatte den auf gekratzten, anfangs sehr pointierten und keineswegs breit arrangierten Swing aus den USA mitgebracht, wohin er 1910 mit gerade 19 Jahren ausgewandert war. 1924 hatte es ihn zurück nach Berlin verschlagen, und in den sechs Jahren seither hatte der »Amerikaner« – eigentlich ein braver Berliner Jude, der überaus gesittet das Stern’sche Konservatorium besucht hatte – die besten Solisten der Stadt um sein Piano geschart und im Eden-Hotel, dem Mercedes-Palast oder dem Palais am Zoo frenetische Anhänger gefunden, die zu jedem seiner zahlreichen Auftritte strömten. Nach und nach waren die rauen Hot-Eskapaden einem sinfonischeren Sound gewichen, der den Jazz-Puristen zu glatt war – und die Massen begeisterte. Sándor staunte insgeheim über die Hartnäckigkeit des Bandleaders: Julian war nie fertig mit einem Stück; er feilte an den Arrangements, schuf Spannungsbögen und Brüche und bediente sich seiner Band wie eines einzigen, vielstimmigen Instruments, mit dessen Hilfe er jede Stimmungsnuance des Publikums reflektieren und zu einem Baustein eines hymnischen, beseligenden und dabei meist verflucht virtuosen Gesamterlebnisses machen konnte. Die Solisten waren in diesem Konzept nur die Sahnehäubchen, die kleinen kantigen Knusperstückchen eines breiter fließenden Sounds. Das gefiel nicht jedem von ihnen; es gab ausufernde Selbstdarsteller an Trompete und Zugposaune, die am liebsten den ganzen Abend ein einziges, nicht endendes Solo gespielt hätten. Doch Julian hatte letztlich die besseren Argumente.
    Â»Ihr spielt euch warm, wir bauen zusammen den Song – und dann ist jeder kurz vorn und ist heiß und frisch und neu. Stochert nicht mit der Tröte in der Musik rum, sondern hört zu – und wenn ihr was zu sagen habt, haut es raus in möglichst wenigen Takten. Nicht schwafeln, Männer – zielen und treffen!«
    Charlie Hersdorf, Arno Lewitsch und Wilbur Curtz waren ausgemachte Individualisten – doch diesem Konzept fügten sie sich, um den mäßig, aber regelmäßig bezahlten Job bei den »Follies« nicht aufs Spiel zu setzen. Und Sándor selbst hatte keine musikalischen Ambitionen; er ließ sich – ganz anders als draußen im echten Leben – an- und ausschalten, wie Julian es wollte, und war zufrieden damit.
    An Sándor Lehmann hatte Fuhs einen Narren gefressen; Sándor wusste selbst nicht, warum, und hatte den strahlenden und überschwänglichen Klavierspieler anfangs schlicht für schwul gehalten, bis er Julians Verlobte Lily Löwenthal kennengelernt hatte, eine schöne, aber schwermütige und theatralische Wienerin, die ihren Julian vergötterte. Nein, Julian Fuhs schätzte Sándor Lehmann für sein Klarinettenspiel, und das war eine bodenlose Schmeichelei, weil Sándor nie zum Üben kam und die schwarze Pappröhre wirklich nur alle ein, zwei Wochen mal hier unten im Probenraum für eine halbe Stunde öffnete.
    Â»Ãœben … kein Mensch muss üben!«, hatte Fuhs begeistert abgewunken. »Man muss es haben, und dann hat man’s, und basta. Was aus einem selbst kommt, braucht man nicht zu üben.« Er hatte sich an Lily gewandt, die ihm fasziniert zuhörte: »Oder übst du Niesen, Schatz?«
    Lily hatte die großen Augen aufgerissen und Fuhs mit einem Blick bedacht, für den andere Männer gemordet hätten oder sich nackt ausgezogen, und mit ihrer etwas kehligen, klagenden Stimme geantwortet: »Wenn du es willst, Julian …«
    Im Gelächter der anderen Musiker war jeder weitere Widerspruch von Sándor untergegangen, und dabei blieb es: Er konnte kommen und gehen, wann er wollte, und mitspielen. Für einen, der im Leben nach allem griff, was er haben wollte, war dieses bedingungslose Geschenk des »Amerikaners« eine unerwartete Geste; ein Angebot, das ihn geradezu verlegen machte, wenn Verlegenheit in seinem rau gerüpelten Wortschatz noch vorgekommen wäre.
    Dass sie sich überhaupt kennengelernt hatten, war reiner Zufall gewesen. 1925 hatte es im Westhafen eine Reihe von Morden gegeben, die Sándor – dessen erster großer Fall es damals gewesen war – und seinen Chef Gennat auf Trab gehalten hatten. In Überseekoffern und verplombten Kisten hatten sie mumifizierte, teilweise skelettierte Tote gefunden, unbekannte,
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