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Bitterer Chianti

Bitterer Chianti

Titel: Bitterer Chianti
Autoren: Paul Grote
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Sie hatten das Ding mit brachialer Gewalt aufgerissen, die beste Kamera, die er je gehabt hatte, war unwiederbringlich zerstört: Die F5 machte acht Bilder pro Sekunde und war leise dabei, sie hatte einen neuen Autofocus-Sensor, die Matrixmessung erfasste auch die Farbverteilung. Sie war ein hochkomplexes High-Tech-Werkzeug, und er hatte sie mühsam von seinen knappen Honoraren abbezahlt. Vielleicht war sogar die Arretierung des Teleobjektivs verbogen ... Das ließ sich möglicherweise richten, aber die Kamera war jetzt eine wertlose Blechbüchse.
    Mit allem hatte er gerechnet, mit Diebstahl, mit Krankheit, mit einem Autounfall – die Strecke war lang: von Hamburg bis in die Toskana und zurück und hier drei Wochen unterwegs, es würde auf sechstausend Kilometer hinauslaufen, vielleicht sogar auf mehr. Drei Wochen hatte ihm der Verlag für den Chianti-Classico-Weinführer zugestanden, drei Wochen Spesen, das Material zuzüglich Entwicklung, ein herrlicher Job nach all dem nervenaufreibenden Kleinkram, der heutzutage für freie Fotografen noch übrig blieb, in Zeiten, wo alles und jeder bereits fotografiert, digitalisiert und archiviert war.
    Drei Wochen waren wenig, bei alldem, was es zwischen Florenz und Siena zu sehen gab, und täglich liefen ihm die Augen über. Dabei war die Vorgabe klar: Der Journalist, der den Weinführer schrieb, hatte die Weingüter ausgesucht, er musste sie abfahren und die Pflichtaufnahmen machen. Das Wie hatte man ihm überlassen, aber es war pures Glück gewesen. Danach blieb noch ein wenig Zeit für die Kür, für das, was er selbst machen wollte.
    Vorsichtig legte Frank die Kamera beiseite und richtete sich auf – und wäre beim Anblick seines Fotokoffers fast wieder in Ohnmacht gefallen. Sie hatten ihn ausgeschüttet. Die anderen Kameras, Objektive und sämtliche Kleinteile lagen verstreut auf dem Boden. Sogar die Filter hatten sie aus den Schachteln genommen und in den Dreck geworfen, zwei waren zersplittert. Frank schaute müde ins Tal, sah die Azienda Agricola von Niccolò Palermo, umgeben von Rebflächen, zwischen denen sich leichter Abendnebel ausbreitete. Rebzeilen in schöner Regelmäßigkeit, wie mit einer gewaltigen Harke über Hänge und Hügelkuppen gezogen, und auch die Olivenplantagen folgten den Erfordernissen des welligen Geländes, die Bäume in Reihen wie topographische Linien die Hänge entlang. Über allem der Wald, der bei sinkender Sonne merklich dunkler geworden war.
    Vor dem Treffen mit dem Winzer Palermo hatte Frank sich wie üblich einen Überblick verschaffen wollen, nur deshalb war er hier heraufgekommen, denn die Totale, die Aufnahme des gesamten Anwesens, würde er exakt von hier aus machen müssen, allerdings am Morgen, denn am späten Nachmittag, wie jetzt, hatte er die Sonne gegen sich.
    Vorhin war jemand schnell über den Hof der Azienda gelaufen, und obwohl diese Person ziemlich weit entfernt gewesen war, glaubte Frank, einen jungen Mann gesehen zu haben, so behende, wie er sich bewegt hatte.
    Unten stand noch sein silbergrauer Volvo, anscheinend unbeschädigt. Es wäre ihm sonst verdammt unangenehm gewesen, denn sein Vater hatte ihm den Wagen geliehen, er hatte es gern getan und fuhr jetzt mit Franks Rostschleuder. Mit seiner eigenen Kiste hätte Frank die Reise nie gewagt, denn der Wagen hatte dauernd Sehnsucht nach dem Werkstattfreak, der alle dreitausend Kilometer leidenschaftlich daran herumschraubte. Also war es unabdingbar, dass er seinem Vater den Wagen heil zurückbrachte.
    Von dem Geländewagen der Prediger keine Spur. Sie hatten ihn direkt vor seinem Wagen stehen lassen. Sie mussten von der Azienda gekommen sein, denn dort endete der Weg, oder sie hatten vor dem Tor gewendet. Jedenfalls waren sie nicht da gewesen, als er unten geparkt hatte.
    Erst nachdem sie ausgestiegen waren, hatte er sie bemerkt. Einer von ihnen war in einer merkwürdigen Haltung stehen geblieben, und durchs Teleobjektiv hatte Frank gesehen, dass er ihn mit einem Fernglas beobachtete. Genau in diesem Moment hatten sie sich in Bewegung gesetzt.
    Es war kurz vor sieben und damit viel zu spät für den Besuch beim Winzer Palermo. Außerdem würde ihm die F5 fehlen, mit der er neuerdings die Porträts machte. Erst jetzt fiel Frank auf, dass alle Filme aus dem Koffer verschwunden waren, die belichteten wie die unbelichteten. Die Männer mussten sie geklaut haben. Schlimm war es wegen der Aufnahmen von heute, er müsste sie noch einmal machen, doch um Nachschub brauchte er
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