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Bindung und Sucht

Bindung und Sucht

Titel: Bindung und Sucht
Autoren: Karl Heinz Brisch
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psychische Störungen,an Konsumerwartungen usw. Bei den sozialen Faktoren schließlich spielen u. a. familiäre Beziehungen, Peerbeziehungen, das soziale Milieu, Vorbilder, die Verfügbarkeit psychotroper Substanzen eine Rolle. Angesichts der Vielzahl und Vielfalt der Einflussfaktoren und deren Wechselwirkungen ist es kaum möglich, diese in einem auch nur halbwegs überschaubaren Bild zusammenzustellen. Da »Bindung« hier als zentrale Perspektive auf die Sucht in den Mittelpunkt gestellt werden soll, ist es wichtig, nicht zu vergessen, dass auch Bindung nur ein Einflussfaktor unter vielen ist, der ebenso wenig wie alle anderen die Sucht allein erklären kann.
    Ich habe den Begriff Sucht bisher sehr allgemein und unscharf benutzt. Treffender wäre es, vom »Konsum psychotroper Substanzen« zu sprechen. Da es bei bindungstheoretischen Fragestellungen meist um Erklärungen für die Motive dieses Konsums geht, muss berücksichtigt werden, dass diese Motive sich in unterschiedlichen Phasen deutlich unterscheiden. Probierkonsum ist in der Regel von Neugier motiviert. Konsumenten psychotroper Substanzen, die diese in sozial- und gesundheitsverträglichem Maße »gebrauchen«, antworten auf die Frage nach ihrem Konsummotiv meist mit »Genuss«.
    Allerdings ist der Übergang zum schädlichen Gebrauch, bzw. Substanzmissbrauch, fließend. Um diesen zu erklären, spielt die »Selbstmedikation« (Khantzian 1997), d. h. der Konsum mit dem Ziel der Veränderung aversiver Affekte, die größte Rolle. Diese Phase ist für die Bindungsforschung am interessantesten. Geht die Suchtentwicklung noch weiter in Richtung Abhängigkeit, werden die ursprünglichen Motive des Substanzkonsums mehr und mehr von der Suchtdynamik überlagert. Motivational überwiegen dann Craving und die Vermeidung von Entzugserscheinungen.
Unsichere Bindung und Substanzmissbrauch
    Ein Modell des Zusammenhangs zwischen unsicherer Bindung und Substanzmissbrauch ließe sich theoretisch folgendermaßen skizzieren. Die Bindungsbeziehungen eines Kindes bieten diesem keine hinreichend »sichere Basis«. Das heißt, das Kind kann Angst und andere Affekte nicht hinreichend mit Hilfe seiner Bindungsfiguren regulieren. In der Folge werden negative Bindungserfahrungen internalisiert und führen zu negativen IWM des Selbst und anderer Menschen. Dadurch können die eigenen Affekte weder über andere Menschen noch über die IWM, also über positive innere Objekte, hinreichend reguliert werden. Hier könnte der Substanzkonsum eine Ersatzfunktion bekommen. Er könnte als »Selbstmedikation«, als »chemische Affektregulation« von Menschen mit unsichererBindung eingesetzt werden. Mit einer solchen Funktion wird der Konsum zum Missbrauch. Zu diesem gehören neben den bekannten Risiken auch drei bindungsspezifische Nebenwirkungen: Erstens wird die Exploration der Umwelt unterbunden, verzerrt, oder aber es werden Risiken eingegangen, die in nüchternem Zustand nicht in Kauf genommen worden wären. Zweitens wird die Mentalisierung, die Exploration der eigenen Innenwelt (und der anderer Menschen), unterdrückt. Oftmals entsteht der Eindruck, dass dieses Nicht-Wahrnehmen, dieses »Dichtmachen« gerade das Ziel des Konsums ist. Und drittens werden Beziehungserfahrungen verhindert, die sonst altersentsprechend hätten gemacht werden können und sollen. Im Ergebnis ist man klinisch dann z. B. mit 25-jährigen Cannabiskonsumenten konfrontiert, die seit zehn Jahren kaum mehr nüchtern waren und den Entwicklungsstand eines 15-Jährigen haben; die keine Beziehungs- und Freundschaftserfahrungen jenseits der Konsumentenclique gemacht haben, die keinen Schulabschluss und keine Ausbildung haben und die weder kognitiv noch emotional altersgemäß entwickelt sind.
Empirie
Methodische Probleme
    Theoretisch lässt sich der erwartete Zusammenhang zwischen Bindung und Sucht gut beschreiben, empirisch wird die Sache allerdings etwas komplizierter. Zunächst einmal weisen viele der Studien zum Thema eine Reihe methodischer Probleme auf. Denn nicht alle Studien, die »Bindung« im Titel führen, sind auch bindungstheoretisch fundiert. Häufig wird Bindung als Synonym für »Beziehung« oder »enge Beziehung« verwendet und mit Instrumenten erfasst, die mit der Bindungstheorie nichts zu tun haben. Aber auch die bindungstheoretisch fundierten Studien sind schwer zu vergleichen, da bei der Erfassung von Bindungsmustern unterschiedliche Verfahren verwendet werden. Shaver und Mikulincer (2002) haben sich die
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