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Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse

Titel: Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
Autoren: Ann Benson
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KAPITEL 1
    1358

    Wann hatte Alejandro Canches die Sprache auf dem Papyrus, der vor im lag, zuletzt gelesen? Er war so schläfrig, daß es ihm nicht einfiel. In Spanien, dachte er; nein, in Frankreich, als ich mich das erste Mal hier aufhielt.
    Ach ja, erinnerte er sich, natürlich, in England, der Brief von meinem Vater, den ich in meinem Tagebuch zurücklassen mußte, als wir flohen.
    Er war bemüht, sich dieser Zeit zu entsinnen, den Schleier der Jahre wegzuschieben; denn unter der bitteren Weisheit des reifen Mannes schlummerte der süße Eifer des einstigen Knaben, der diese Sprache bei Kerzenlicht studiert hatte, von seiner Familie aufmerksam beobachtet. Die Aufgabe machte ihm damals Freude, während andere Jungen seines Alters sich beschwerten. Was nutzt all das Studieren? wiederholten sie verdrießlich. Bald sind wir sowieso alle gezwungen, wieder eine andere Sprache zu erlernen.
    Falls wir nicht vorher umgebracht werden, habe ich damals gedacht, erinnerte er sich jetzt.
    Die erste Seite hatte er beendet, die Symbole entziffert, die Worte endlich offenbart. Er empfand wieder den Stolz jenes kleinen Jungen, den Hunger nach Lob, der niemals wich. In der Tiefe seiner unsterblichen Seele sehnte er sich schmerzlich danach, weiter zu übersetzen; aber sein sterblicher Körper schien entschlossen, ihm dieses Glück zu verweigern. Würde er später in einer kalten Lache seines eigenen Speichels erwachen, die Buchstaben unter seiner Wange verschmiert und ruiniert? Oder würde die Kerze herunterbrennen, während er mit dem Kinn auf der Brust vor sich hin schnarchte, und ihr Wachs auf die Blätter tropfen lassen? Beides durfte nicht geschehen.
    Vorsichtig blätterte er die Papyrusseiten zurück und überflog noch einmal, was er übersetzt hatte. Die Symbole, mit unglaublicher Präzision in reinstem Gold aufgetragen, verliefen auf der Seite von rechts nach links.
    ABRAHAM DER JUDE, PRINZ, PRIESTER, LEVIT, ASTROLOGE UND PHILOSOPH, WÜNSCHT DEM VOLK DER JUDEN, VOM ZORNE GOTTES IM LAND DER GALLIER ZERSTREUT, GESUNDHEIT.
    Diese Seiten bargen laut dem Apotheker große Geheimnisse. Nur weil er sich in einer verzweifelten Lage befand, hatte es ferner geheißen, dachte er überhaupt daran, sich von einem solchen Schatz zu trennen. Und so hatte die junge Frau, die Alejandro Canches als ihren père, ihren Vater, bezeichnete, in der Apotheke aus der Tasche ihres Rocks die Goldmünze herausgeholt; auf Alejandros Geheiß mußte sie sie immer bei sich tragen, für den Fall, daß sie irgendwie getrennt würden, und nun tauschte sie sie kühn gegen das Buch ein. Alejandro hatte das Mädchen ausgeschickt, um Kräuter zu holen, und sie war mit Blättern anderer Art zurückgekehrt – im vollen Bewußtsein, was sie ihm bedeuten würden.
    Er schaute sich in der dunklen Hütte um, die gegenwärtig ihre Wohnstatt darstellte, und lächelte, als er ihre schlafende Gestalt sah.
    »Ich habe dich also gut unterrichtet«, flüsterte er.
    Stroh raschelte, als die junge Frau sich bewegte. Ihre sanfte Stimme kam aus dem Finstern, liebevoll, aber auch tadelnd.
    » Père? Seid Ihr noch wach?«
    »Ja, mein Kind«, sagte er, »dein Buch will mich nicht loslassen.«
    »Ich bin kein Kind mehr, Père. Ihr müßt mich bei meinem Namen oder ›Tochter‹ nennen, wenn es Euch gefällt. Aber nicht ›Kind‹. Und es ist Euer Buch – aber ich bedaure allmählich, daß ich es für Euch gekauft habe. Ihr müßt jetzt zu Bett gehen und Euren Augen etwas Frieden gönnen.«
    »Meinen Augen mangelt es nicht an Frieden. Sie haben viel zuviel davon. Jetzt hungern sie nach den Worten auf diesen Seiten. Und du darfst diesen Kauf nie bereuen!«
    Sie stützte sich auf einen Ellbogen und rieb sich energisch die Schläfen. »Das werde ich aber, wenn Ihr Eurer eigenen Warnung nicht folgt, daß Überanstrengung die Augen ruiniert.«
    Er spähte durch das Halbdunkel nach der jungen Frau, die unter seiner Obhut so schön und gediegen war, so gerade und stark und hell. An Gesicht und Händen trug sie noch schwache Spuren von Kindlichkeit; aber auch die würden bald dahinschmelzen, das wußte er, zusammen mit ihrer Unschuld. Doch noch glänzte der rosige Schimmer des jungen Mädchens auf ihren Wangen, und Alejandro wünschte sich im stillen, es möge ihr ein wenig Aufschub vergönnt sein.
    Sie wird bald Frau, gestand er sich ein. Dieser Gedanke war von einem vertrauten Gefühl begleitet, das er noch nicht befriedigend definieren konnte – wenn er auch oft meinte, »hilflose
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