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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens
Autoren: Dörthe Binkert
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Mensch hatte auch Nika eine Mutter, von der ihr jemand erzählen konnte.
    »Xenias Vater ist   …«, die Frau unterbrach sich. »Jedenfalls hatte Xenia entsetzliche Angst, ihm unter die Augen zu treten. Wir beschlossen,
     dass sie das Kind zur Welt bringen   …«
    »…   und dann aussetzen sollte«, beendete Nika den Satz.
    Die Frau nickte. »Es gab keine andere Lösung.«
    »Vielleicht. Wie ist meine Mutter gestorben?«
    »Xenia heiratete bald nach ihrer Rückkehr einen Venezianer, einen jüngeren Freund Ihres Großvaters. Sie gebar, schnell hintereinander,
     zwei Söhne. Sie hat nie mehr mit mir über Sie gesprochen. Ich weiß nicht, wie glücklich oder unglücklich sie war. Auch darüber
     redete sie nicht. 1884 brach in Neapel die Cholera aus. Die Seuche verbreitete sich schnell, auch nach Venedig. Der Scirocco,
     die vielen Reisenden. Ihre Mutter starb an der Cholera, im Jahr 1884, die Kinder waren beide noch ganz klein. Sie wuchsen
     bei Signore Damaskinos, ihrem Großvater, auf.«
    Sie schwiegen nun beide.
    »Es ist eine traurige Geschichte«, sagte Nika endlich. »Aber ich bin froh, dass ich sie gehört habe.«
    Die Frau erhob sich von der Bank. »Ich muss zurück ins Haus«, sagte sie, und dann, unsicher: »Hätten Sie gern eine Fotografie
     von Ihrer Mutter?«
    Nika sah sie überrascht an. Aber natürlich, es gab ja Fotografien! Sie nickte. »Ja, das möchte ich.«
    »Dann warten Sie. Ich bin gleich zurück   …«
    Und mit ihrem gebeugten Rücken eilte die Dienerin davon.
     
    Nika hielt noch immer die sepiafarbene Fotografie ihrer Mutter in der Hand. Achille Robustelli sah, dass sie mit den Tränen
     kämpfte.
    »Nein«, sagte Nika. »Meine Familie hat mich nicht aufgenommen. Es war dumm von mir, zu glauben, dass man erfreut über mein
     Auftauchen sein würde. Aber es war kein schöner Moment, glauben Sie mir, es war schrecklich   …«
    Und dieses Mal stand Achille Robustelli auf, zog Nika von ihrem Stuhl und nahm sie in die Arme. Es war die natürlichste Sache
     von der Welt. »Du lebst. Du bist da. Du bist schön. Segantini hat deine Schönheit immer bewundert. Und wahrscheinlich wartet
     jetzt schon Signore Bonin auf dich.«
    Nika lächelte. »Woher wissen Sie   …?«
    »Du hast an seinem Arm das Hotel betreten. Ich sah die Kutsche ankommen   …« Er sah nicht glücklich aus bei diesen Worten, deshalb unterbrach sie ihn.
    »Und was ist nun mit Andrina?«
    »Nichts ist mit Andrina«, antwortete Achille abwehrend. »Sie ist im Augenblick in Mailand. Übrigens kommt Segantini nicht
     zum Abendessen. Er ist schon seit einigen Tagen auf dem Schafberg beim Malen.«
    Nika wandte den Kopf ab. »Ich muss jetzt gehen und mich frisch machen für heute Abend«, sagte sie nur. »Und ich werde Sie
     ab sofort Achille nennen, jetzt, wo ich Sie endlich wiedersehe.«
    ***
    Benedetta legte den Schal, den Nika ihr aus Venedig mitgebracht hatte, bedächtig zur Seite. »Du kannst im Haus übernachten,
     wenn du willst«, sagte sie. »Gian ist bei meiner Schwester in Soglio.«
    »Was macht er, wie geht es ihm?«, fragte Nika.
    Benedetta wiegte den Kopf hin und her. »Man weiß nicht, ob es gut geht, aber er hat ein Mädchen. Die Flurina aus der Wäscherei.
     Du kennst sie nicht, sie war noch nicht hier, als du da warst.«
    »Aber das ist doch wunderbar!«, rief Nika.
    »Das wird man sehen«, gab Benedetta zurück. »Wenn es so geht wie mit Andrina, ist es nicht so wunderbar.«
    »Signore Robustelli sagte mir, dass sie gerade in Mailand ist.«
    »So kann man es auch nennen. Er hat sie geheiratet. Nicht, dass ich je dafür gewesen wäre, aber kaum war sie verheiratet,
     ist sie ihm davongelaufen. Es ist eine Schande! Benutzt hat sie ihn, sonst gar nichts. Mit einem reichen Gast ist sie durchgebrannt.«
     Sie trank ihren Kaffee aus und schob die Tasse weit von sich weg. »Wie sich die Welt verändert. Ich hätte einmal sagen sollen,
     den Aldo, den will ich nicht mehr.«
    »Aber du willst ihn ja«, sagte Nika besänftigend.
    »Das ist leicht gesagt und schwer gelebt«, antwortete Benedetta und bekreuzigte sich.
    Nika sah sich wehmütig in der Küche um. »Weißt du noch, Benedetta, wie du mir den Knöchel verbunden hast? Erst hast du mich
     nicht haben wollen, dann hast du für mich gesorgt wie eine Mutter.«
    »Schon gut, hast ja auch gezahlt für das Essen«, brummte Benedetta. »Und wovon lebst du in Venedig? Die gebratenen Tauben
     fliegen einem ja wohl auch dort nicht ins Maul.«
     
    Das wusste Nika sehr
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