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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens
Autoren: Dörthe Binkert
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stattdessen an sich gezogen und auf beide Wangen geküsst
     hatte.
    »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich dachte, Sie möchten vielleicht die Fotos haben, die ich
     von Ihnen gemacht habe   …«
    »Sie müssen auch die Negative vernichten«, zischte sie leise zurück. Manchmal dachte sie noch mit einer gewissen Wehmut an
     jenen heißen Sommernachmittag in St. Moritz.
    Edward schaute diskret zur Seite und beschäftigte sich, wie schon einmal beim Picknick am Stazer See, mit Betsy, damit James
     und Mathilde einen ungestörten Augenblick hatten. Er vertraute Mathilde und, in Maßen, auch seinem Freund.
    Betsy wollte, bevor das Essen begann, noch einen Spaziergang mit Mathilde machen. »Tilda, nun komm schon«, rief sie ungeduldig.
     »Wer weiß, wann ihr das nächste Mal wieder in der Schweiz seid. Ich habe so viele Fragen!«
    Betsy war ungemein neugierig, zu erfahren, ob Mathilde nun schwanger war. Ihre Schwester Emma hatte etwas in die Richtung
     angedeutet.
    Edward hingegen wusste, dass James erleichtert in die Hände klatschen würde, wenn er erfuhr, dass sein alter Schulfreund seine
     Pflanzenmanie auf Hobbymaß zurückgestutzt hatte. Er hatte ja jetzt Mathilde, die er hegen und pflegen konnte, und so hatte
     sich Edward wieder vermehrt seiner Arbeit im Kunstinstitut zugewendet.
    Sein Vater und sein Schwiegervater waren im Übrigen sehr glücklich über die Verbindung von Edward und Mathilde. Der Bauunternehmer
     Schobinger stattete seine Bauten seither nur noch mit Sanitäranlagen aus, die Edwards Vater produzierte. Die englischen Bäder,
     so hieß es doch, seien die besten ihrer Zeit. Edwards Verhältnis zu seiner Schwiegermutter dagegen war etwas kühl geblieben.
     Emma Schobinger hätte einen Aufstieg in die Bankierskreise von Zürich deutlich vorgezogen, und England war doch ein sehr fremdes
     Terrain.
     
    Auch Nika machte noch einen Spaziergang. Sie ging zum See, zu jener Stelle, wo Gian sie hingeführt und Segantini sie beobachtet
     hatte. Aber der See war heute kein Spiegel, die Oberfläche war zu bewegt, man sah wohl auf den Grund, nicht aber das eigene
     Gesicht.
    Segantini würde nicht zum Treffen der Freunde kommen. Da er nicht wissen konnte, dass auch sie da sein würde, hatte sein Fernbleiben
     nichts mir ihr zu tun. Nika setzte sich auf die Bank, auf der sie gesessen hatten, als er sie fortschicken wollte. Er hatte
     sie ziemlich unbarmherzig auf ihren eigenen Weg gestoßen. Sie war ihn gegangen. So wie er, und doch auf ihre Weise.
    Plötzlich war es ihr, als stünde Segantini am Ufer des Sees. Er schien einen flachen Kiesel aufzuheben und ihn so geschicktzu werfen, dass er in mehreren Sprüngen über das Wasser hüpfte. Jedenfalls sah man die zitternden Ringe im Wasser.
    »Du hattest recht«, sagte sie, »obwohl ich dir lange nicht verziehen habe. Das Medaillon hat mich zu meiner Familie geführt,
     aber sie wollte mich nicht haben. So viele Jahre hat die Hoffnung auf diese Familie mich überleben lassen! Was ist, wenn man
     erkennt, dass sie ein Trug war? Dass die Hoffnung unerfüllt bleibt?«
    Sie glaubte, Segantini lachen zu hören. »Das ist das Leben.«
    Nika versank in Gedanken.
    »Ich muss gehen«, schien die Erscheinung zu sagen.
    »Warte!«, rief sie. »Nur noch eine Minute!« Aber es war, als höre Segantini schon nicht mehr richtig zu.
    Das Bild, das sie so deutlich vor sich gesehen hatte, verblasste. »Halte dich an die Kunst, Nika«, wehte es noch herüber.
     »Sie tröstet den, der sie hervorbringt, und die, die sie be-trachten.«
    Nika schluchzte auf.
    »Ich wollte Ihnen doch unbedingt noch sagen, Signore Segantini, dass ich glücklich bin. Sie sind hinauf ins Licht gestiegen.
     Ich habe Sehnsucht nach der Dunkelkammer, wo meine Bilder entstehen, die das Gesicht der Welt auf meine Weise einfangen.«
    Sie stand auf und ging langsam zum Hotel zurück. »Ich suche im Hellen das Dunkle, im Dunkel das Licht«, sagte sie und hoffte,
     er höre es.
    ***
    Während Nika ihn noch einmal in aller Deutlichkeit vor sich zu sehen glaubte, lag Giovanni Segantini in der Alphütte auf dem
     Schafberg oberhalb Pontresina im Sterben.
    Bevor er am 18.   September aufgebrochen war, hatte er einen merkwürdigen Traum gehabt. Er hatte wachen Sinnes geträumt, er sei gestorben und
     man trage ihn auf einer Leichenbahre aus dem Haus, gerade so, wie er es auf seinem Bild »La Morte« gemalt hatte.
    Sein Sohn Mario und die Baba begleiteten ihn auf den Schafberg. Das Bild
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