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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens
Autoren: Dörthe Binkert
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…«
    Er lachte wieder.
    »Die Chiesa dei Frari ist gerade um die Ecke. Ich frühstücke meist in der Bar gegenüber. Und als ich an jenem Morgen die Bar
     verließ, um zur Arbeit in die Redaktion zu gehen, bist du mir draußen in die Arme gefallen, ohne guten Tag zu sagen.«
    Nika erinnerte sich nicht.
    Fabrizio war so froh, dass es ihr besser ging, dass er einen leisen Spott nicht unterdrücken konnte: »Ja, so ist es. Du fällst
     mir einfach in die Arme, wenn du mich siehst. Aber du brauchst in Zukunft nicht mehr ohnmächtig dabei zu werden. Ich glaub
     dir auch so, dass du nicht anders kannst.«
     
    »Und da bist du aus dem Palazzo Damaskinos weggelaufen?«, fragte Fabrizio nach.
    »Ja«, antwortete Nika.
    »Dein Großvater hat dir vorgeworfen, eine Diebin zu sein?«
    Nika nickte.
    »Und da bist du weggelaufen.« Sie nickte noch einmal.
    »Du läufst wohl öfter davon. Aus Mulegns bist du auch fortgelaufen   …«
    Sie wollte ihn heftig unterbrechen.
    »Schon gut. Nicht aufregen.« Langsam verstand er Nikas Geschichte.
    »Aber jetzt«, meinte er, »brauchst du nicht mehr wegzulaufen.«
    »Aber doch!«, rief sie. »Ich hab dir ja gesagt, was geschehen ist. Sie wollen mich doch hier in der Stadt nicht haben.«
    Sie kam wirklich aus einer anderen Welt. »Venedig ist nicht Maloja, wo ein einziger Mann darüber bestimmen wollte, ob du dort
     leben darfst oder nicht.« Er erwähnte den Namen Segantini nicht, setzte aber zufrieden hinzu: »Und selbst dort hätte er es
     nicht können. Venedig ist eine große Stadt. Die Familie Damaskinos hat nicht das Recht zu entscheiden, wer die Stadt betreten
     darf und wer sie verlassen muss.«
    »Aber sie können mich als Diebin einsperren lassen!«
    »Unsinn.« Fabrizio schüttelte den Kopf. »Sie können nicht beweisen, dass das Medaillon gestohlen wurde. Du aber kannst beweisen,
     dass du in Mulegns ausgesetzt wurdest – mit diesem Medaillon. Du könntest nämlich Zeugen benennen.«
    Nika schwieg.
    »Aber du würdest trotzdem gern weglaufen?«
    Sie nickte.
    »Und warum?«
    »Weil ich nirgendwo hingehöre. Nicht einmal in mein eigenes Elternhaus.«
    Fabrizio wurde ärgerlich. »Aber man bleibt nicht sein ganzes Leben lang ein Kind. Irgendwann muss jeder Mensch selbst für
     sein Leben einstehen.«
    »So viele Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet«, sagte sie nur darauf, »auf den Moment, irgendwo dazuzugehören. Eine
     Familie zu haben wie andere auch. Das verstehst du nicht.«
     
    »Buon giorno«, sagte Nika, als die gebückte Frau die hohe Tür des Palazzo öffnete. »Sie erkennen mich sicher wieder. Vor ein
     paar Wochen klopfte ich an und wollte den Signore Damaskinos sprechen.«
    Die Frau nickte zögernd.
    »Heute möchte ich nicht zu ihm, sondern zu Ihnen.«
    Die Frau, beunruhigt und ängstlich, trat zu Nika auf die Straße hinaus. »Kommen Sie«, sagte sie und nahm Nika am Arm, »gehen
     wir ein paar Schritte vom Haus weg.«
    Sie führte Nika bis zum Campo S.   Zaccaria, wo sie sich setzen konnten.
    »Nun fragen Sie mich, was Sie fragen wollten.«
    »Vielleicht wissen Sie schon, was ich fragen möchte.«
    Nika zeigte der Frau das Medaillon. »Dies hat man zusammen mit einer Summe Geld bei mir gefunden, in den Schweizer Bergen.
     Ich war ein Säugling. Ausgesetzt von einer jungen Frau und ihrer Begleiterin, die mit der Postkutsche unterwegs waren nach
     Silvaplana im Engadin.«
    Die Frau antwortete noch immer nichts, obwohl Nika nach jedem Satz eine Pause machte. »Ich bin in diesem Dorf aufgewachsen.
     Bei einem Bauern, der das Geld einkassierte und mich auf seinem Hof arbeiten ließ.«
    »Ich habe Ihre Mutter begleitet«, sagte die Frau jetzt stockend. »Ich habe ihr gedient, seit sie ein junges Mädchen war. Zwei
     Jahre lang war ich mit ihr unterwegs, auf einer Bildungsreise durch Europa. Die Familie Damaskinos ist eine alte Kaufmannsfamilie,
     wir waren überall willkommen, in den besten Häusern, bei den angesehenen Handelspartnern ihresVaters. Xenia war schön und liebenswert, ihr Vater hat wohl gehofft, es würde sich eine Heirat ergeben mit dem Sohn eines
     ausländischen Partners. Aber Ihre Mutter ist nur schwanger geworden und hat nie verraten, von wem.«
    Menschen überquerten den Platz, eine Katze jagte hinter den Spatzen her. Ein Hund lag vor dem Eingang eines Ladens im Schatten
     und gähnte. Nika saß still und rührte sich nicht. Mit einem Mal war ihr wunderbar leicht zumute. Was immer ihre Mutter getan
     hatte, es hatte sie gegeben. Wie jeder
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