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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens
Autoren: Dörthe Binkert
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»du bist nicht schwer, wir tragen dich.«
    Jetzt sieht sie aus wie ein flügellahmer Vogel, dachte er. Es hätte ihn nicht einmal erstaunt, wenn sie wirklich Flügel gehabt
     hätte. Gebrochene Flügel. Denn sonst, so dachte er, wäre sie sicher nicht an diesen Ort gekommen.
     
    Benedetta zog den Topf mit der Suppe an den kühleren Rand des Ofens und beschloss, kein Holz mehr nachzulegen. Wo Gian und
     Luca wieder blieben? Gian fand immer etwas, dasihn ablenkte und ins Trödeln brachte. Schwer zu glauben, dass er der Älteste war. Seine Geburt hatte einfach zu lange gedauert,
     die Hebamme hatte nichts ausrichten können, und der Arzt wollte den mühselig langen Weg gar nicht erst antreten. Gian war
     eben ein Winterkind, in Schnee und Eis geboren, anders als Luca. Der war kräftig und würde seinen Weg schon machen, wie ihr
     Mann Aldo immer sagte. Aldo passte schon auf, dass sein Lieblingssohn nicht zu kurz kam. Aber Gian   … Es war gut, dass er den Sommer mit den Kühen oben in Grevasalvas verbrachte, es tat ihm wohl, und er hatte dann weniger
     Anfälle. Und zu viel anderem taugte er nicht.
    Benedetta trat vor das Haus und hielt das Gesicht in die Sonne. Dieses durchsichtige Frühlingsblau. Im Sommer sank der Himmel
     tiefer. Sie ließ den Blick zum Piz Lagrev hinaufwandern. Dann zwinkerte sie ungläubig. Das waren doch Luca und Gian, die da
     den Hang herabstiegen, aber wen schleppten sie denn da?
     
    »Im Haus ist kein Platz für sie«, sagte Benedetta entschieden, als sie die Fremde sah.
    »Aber wir müssen ihren Fuß ansehen«, gab Gian zurück. Sie ließen die junge Frau auf einen Stuhl gleiten, und selbst Luca nickte.
     »Der Knöchel sieht böse aus. Ist das Essen noch warm? Wir haben Hunger. Sie«, er nickte zu der Fremden hinüber, »sicher auch.«
    Benedetta zeigte auf den Suppentopf und die henkellosen Näpfe, die für alles dienten: Kaffee, Milch, Suppe, Polenta. Dann
     beugte sie sich zu dem Mädchen vor und sagte ohne großes Erbarmen: »Gib mir deinen Fuß. Mal sehen, ob er gebrochen ist.« Vorsichtig
     betastete sie die Schwellung. Die junge Frau zuckte zusammen.
    »Wo willst du eigentlich hin?«, lenkte Benedetta von derschmerzhaften Untersuchung ab. Doch sie bekam keine Antwort.
    »Sie redet nicht«, entgegnete Gian stattdessen.
    Benedetta richtete sich auf und hielt sich mit den Händen den Rücken.
    »Der Knöchel ist nur verstaucht. Aber ein paar Tage wird es dauern, bis du wieder richtig mit dem Fuß auftreten kannst«, sagte
     sie zu der jungen Frau, die seegrüne Nixenaugen auf Benedetta richtete.
    »Ich mache dir einen Wickel. Gian, bring mir die Arnikatinktur aus dem Nachttisch.«
    Benedetta stellte eine Schale Suppe vor das Mädchen hin. Die weißliche Gerste war dick aufgequollen und hatte fast alle Flüssigkeit
     aufgesogen. »Da, iss erst mal.« Sie schien jetzt milder gestimmt und fischte noch ein Stück Wurst aus dem Topf.
    Hungrig machte sich die Fremde über das Essen her. Benedetta legte noch eine Scheibe Brot dazu.
    Während sie den verstauchten Knöchel verband, kam sie wieder auf den Punkt zu sprechen, der sie umtrieb.
    »Hier im Haus ist kein Platz.« Benedetta sah sich vielsagend in dem Raum um, der Küche und Stube zugleich war. »Seit Jahren
     wollen wir schon nach Stampa zurück, ins Bergell.« Sie machte eine vage Kopfbewegung in die Richtung der Passhöhe. »Aber wie
     es dann so geht   … Wir sind hier hängen geblieben, weil es im Hotel immer wieder Arbeit gibt. Aldo, mein Mann, schreinert überall, nur nicht
     hier, wo es viel zu tun gäbe.« Sie besah den Wickel, den sie der jungen Frau angelegt hatte. »Aber wenn du willst, kannst
     du im Stall schlafen, bis es dir besser geht. Wo kommst du her? Einen Namen hast du ja wohl auch   …«
    »La Straniera non parla«, warf Luca ein, den das Schweigen der Fremden ärgerte.
    »Aber hören kann sie«, stellte seine Mutter fest und fragte, als wolle sie es beweisen: »Bist du müde? Möchtest du dich ins
     Heu legen?«
    Das Mädchen nickte dankbar.
    »Dann zeig der Straniera den Weg, Luca. Hier«, sie wandte sich noch einmal an die junge Frau, »nimm noch eine Decke, damit
     du nicht frierst.«

Ein Schloss am Ende der Welt
    Das Hotel Kursaal Maloja rüstete sich für die Sommersaison 1896.   Aus den Dörfern des Engadin und den umliegenden Tälern, dem Bergell, dem Veltlin und den angrenzenden Gebieten des neu gegründeten
     Königreichs Italien trafen die Kellner, Köche, Hausdiener, Stubenmädchen,
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