Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens
Autoren: Dörthe Binkert
Vom Netzwerk:
Arztes zusammengesetzt.
    Segantini hatte ein Projekt, das er allein nicht verwirklichenkonnte. Bei der nächsten Weltausstellung, die 1900 in Paris stattfinden sollte, wollte er ein monumentales Rundgemälde ausstellen,
     ein Panorama, das der Welt die unvergleichliche Schönheit des Engadins zeigen sollte. Und nicht nur das: In einem Pavillon
     riesigen Ausmaßes, so stellte er sich vor, würden die Besucher einen künstlichen Hügel erklimmen, frische Bergluft atmen,
     an Wasserläufen entlangspazieren, Kuhglockengeläute hören und die Gemälde bestaunen können.
    Oscar Bernhard brauchte einen Moment, um das Ausmaß dieser Idee zu begreifen und sich den Umfang an Geldmitteln vorzustellen,
     der nötig sein würde, etwas Derartiges in die Tat umzusetzen.
    »Sie wissen, wie sehr ich Sie schätze, Segantini«, sagte er nach einigen Minuten des Nachdenkens, »und je länger ich darüber
     nachdenke, umso gewinnbringender scheint mir die Idee, auch wenn Sie zugeben müssen, dass ihr etwas Fantastisches anhaftet.«
    Er machte eine Pause, um seinen Gedanken noch einmal freien Lauf zu lassen. »In der Tat könnte dieses Projekt in Paris für
     das Engadin werben. Hunderttausende werden die Weltausstellung besuchen, ja Millionen Menschen aus ganz Europa und Übersee   … Man müsste die Hoteliers der großen Häuser hier am Platz dafür begeistern. Eine bessere Werbung um Besucher lässt sich nicht
     denken.« Er schenkte seinem Gast und sich Tee nach und sah Segantini bewundernd an.
    »Sie sind nicht nur ein großer Maler, Sie fühlen sich auch dem Engadin sehr verbunden   …«
    Segantinis dunkle Augen blitzten auf, und mit einer stolzen, selbstbewussten Geste fuhr seine Rechte durch die prächtigen
     Locken. »Das ist wahr. Ich liebe die Berge. Ich möchte mit meinem Panorama ein Bild der Natur zeigen, vor dem die Menschen
     in Andacht verstummen.« Das Feuer in seinen Augen wirkte ansteckend.
    Bernhard nickte. Ja, so kannte er Segantini.
    Aber auch er hatte eine Vision, und die Eröffnungen seines Freundes ermunterten ihn, ebenfalls etwas preiszugeben, das ihn
     seit Längerem beschäftigte.
    »Lieber Segantini, auch ich möchte Ihnen etwas anvertrauen, eine Idee, mit der ich mich trage. Ich bin Arzt, und ich sehe
     nicht nur im Sommer viele Patienten, sondern das ganze Jahr über, seit wir jetzt auch eine Wintersaison haben. Badrutt hat
     ja recht gehabt, so viele Sonnentage, wie wir sie hier im Winter haben, gibt es anderswo kaum.« Er lachte. »Der Fuchs. Er
     hat den Gästen versprochen, ihnen die Reisekosten zu ersetzen, wenn er mit seinem Versprechen, dass sie auch im Winter draußen
     die Sonne genießen würden, nicht recht behalten sollte. Seitdem verdient er doppelt so viel wie vorher!« Er räusperte sich,
     bevor er fortfuhr und dem Freund seine innersten Gedanken anvertraute.
    »Nun hören Sie. Die Sonne ist ein ungeheures Kapital. Aber nicht nur im finanziellen Sinn, sondern auch für die ärztliche
     Wissenschaft. Die Sonne hat heilende Kraft. Vor allem hier in der Höhe und in Verbindung mit der sauberen Luft. Es ist mir
     aufgefallen, dass Wunden unter Sonneneinstrahlung besser heilen. Das Gewebe regeneriert sich rascher, und die Wunde trocknet
     schneller ab.« Er räusperte sich wieder.
    Segantini sah ihn verwundert an, so kannte er den Arzt gar nicht. Er kam sonst immer sehr schnell zur Sache.
    »Lachen Sie jetzt nicht, lieber Freund, wenn ich unser gutes Trockenfleisch ins Spiel bringe. Aber die Technik, das Rindfleisch
     in der Sonne zu trocknen, bis das exquisite Bündnerfleisch entsteht, hat mich inspiriert. Das rohe Fleisch trocknet, ohne
     zu faulen oder zu verderben. Also fing ich an, über etwas nachzudenken, das ich ›Heliotherapie‹ nennen möchte. Wundheilung
     durch Sonnenbestrahlung. Wenn man die Verletzten beziehungsweise ihre Wunde möglichst viel der frischenSonnenluft aussetzt, dann – so behaupte ich – werden die Patienten schneller und auf ganz natürliche Weise geheilt. Vor allem
     die chirurgische Tuberkulose, so möchte ich nachweisen   …« Er unterbrach sich. »Sie sind kein Arzt, und ich möchte Sie nicht langweilen. Aber da Sie mir Ihre Ideen anvertraut haben,
     wollte ich Ihnen auch von meiner berichten.«
    Segantini zeigte sich durchaus interessiert. Er war wissbegierig und als Autodidakt stets bestrebt, Bildungslücken zu schließen.
     Seine Kinder, das hatte er immer betont, sollten anders aufwachsen als er, und er hatte von Anfang an darauf bestanden, dass
    
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher