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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens
Autoren: Dörthe Binkert
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bis sie weiterkonnte, über den Maloja ins Bergell und nach Chiavenna
     hinunter und dann weiter nach Italien.
    Nika nickte noch einmal zustimmend.
    »Na, siehst du«, sagte Andrina zu ihrer Mutter. »Du wirst dich schon daran gewöhnen. Und nachher bist du ganz zufrieden.«
    Für die Angelegenheiten des Tages mochte das stimmen, dachte Aldo. Ja, so war sie, die Benedetta. Er schob ihr schweigend
     den Teller hin, und Benedetta gab ihm mit dem Holzlöffel noch einmal von der Bramata. Grobkörnig hatte er den Mais am liebsten.
     Kochen, das konnte sie wirklich, darauf ließ er nichts kommen, wenn er auch nie Danke sagte. Er schreinerte, sie kochte. Sie
     bedankte sich ja auch nicht dafür, dass er jahraus, jahrein seine Arbeit machte. Im Gegenteil, immer wieder kam es auf den
     Tisch, dass sie nach Stampa zurückwollte, ins mildere Klima des Bergell. Hier oben waren ihr die Winter zu hart. Was Benedetta
     sonst fühlte, wusste man nicht, denn so wenig, wie sie je Begeisterung zeigte, zeigte sie heftige Ablehnung, Trauer oder Verzweiflung.
    »Also gut«, sagte Aldo und erhob sich, »Andrina schlägt die Sache im Hotel vor. Und dann sehen wir ja, was daraus wird.«
    ***
    Noch nie war es Nika so gut gegangen. Sie aß am Tisch der Biancottis, als gehöre sie zur Familie. Sie würde in der Wäscherei
     des Hotels arbeiten und zum ersten Mal im Leben für ihre Arbeit auch entlohnt werden. Einen Teil des Geldes musste sie abgeben,
     aber den anderen Teil konnte sie zurücklegen, und eines Tages würde das Geld reichen, um die Postkutsche zu besteigen oder
     die Eisenbahn. Kleine Wolken von Rauch würden aus dem Schornstein der Lokomotive aufsteigen, ihr helles Pfeifen die Luft zerschneiden
     wie die Schienen die Landschaft. Und die Welt würde zerfallen in eine Welt, die hinter ihr, und eine, die vor ihr lag.
    Eines Tages, dachte Nika, werde ich vor meiner Mutter stehen. Es gibt einen Ort, an den ich gehöre. Jeder Mensch gehört irgendwohin.
     Es wird der Tag kommen, an dem ein Mensch die Rose auf meinem Medaillon erkennt und die Botschaft versteht, die im Medaillon
     verborgen liegt.
    Nika befühlte ihren Knöchel und bewegte den Fuß sanft hin und her. Vorsichtig rieb sie den Fuß im Dämmerlicht der Petroleumlampe
     noch einmal mit der Tinktur ein, die Benedetta ihr wortlos in die Hand gedrückt hatte.
     
    In Mulegns hatte sie im Stehen essen müssen. Oben am Tisch wurde das Essen ausgegeben bei denen, die saßen, und der Rest kam
     dann herunter zum Tischende, zu ihr. Hier dagegen konnte man sich beim Essen ausruhen. Benedetta hatte ihr sogar einen kurzen,
     fragenden Blick zugeworfen, ob sie noch mehr wolle. Aber sie hatte nicht zu nicken gewagt.
    Der Bauer in Mulegns war unberechenbar gewesen, geradeund vor allem beim Essen. Manchmal zog er seinen Gürtel ab. Dann war ihm eine Laus über die Leber gelaufen. Als Erste traf
     es immer sie. Wie erstarrt sahen die anderen zu. Wie angewurzelt blieben sie sitzen. War es mit ihr nicht genug, nahm er sich
     die eigenen Kinder vor. Reto, der genauso alt war wie sie, zeterte und schrie: »Warum? Was hab ich denn getan?«, und versuchte,
     sich unter dem schweren Holztisch zu verstecken. Das war dumm, denn dann kriegten sie noch mehr ab. Nika fragte nie: »Warum
     ich?« Sie tat dem Bauern nicht einmal den Gefallen zu winseln, geschweige denn zu schreien. Knöpfte sich der Alte alle elf
     Kinder vor, erlahmte bei den letzten seine Hand. Aber nicht bei ihr, dem fremden Balg, bei dem er stets begann, wenn er noch
     voller Zorn und sein Arm noch nicht müde war.
    Dann vergingen ein paar Tage, bis er wieder zum Rand gefüllt war mit Missmut und Ärger. Wie andere sonntags zur Kirche gehen,
     waren die Schläge sein Ritual, sich von der Mühsal der Woche und der Unerbittlichkeit des Daseins, die über ihm hing, für
     einen Augenblick zu befreien. Hatte das Unwetter sich entladen, erschien ein Lächeln auf seinen Lippen, das in seinem hageren
     Gesicht fast unschicklich wirkte, und er befahl Hans, dem Ältesten, ihm ein Bier zu holen.
     
    Nika streichelte die Kühe, die Gian im Stall angebunden hatte. Braun und zierlich waren sie, der Pelz in den Ohren hell wie
     Milch, die Hörner anmutig geschwungen. Die vier Tiere standen still und sahen sie aus dunklen Augen an. Warmer Atem drang
     aus ihren Nüstern. Die Wärme ihrer Leiber würde den Stall erwärmen. Geborgen in einem Geruch, der ihr vertraut war, löschte
     Nika die Lampe. Aus dem Dunkel wurde ein neuer Tag geboren. Mehr
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