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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens
Autoren: Dörthe Binkert
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Geringsten ein, warum Frauen für ihre Wollust bestraft werden sollten. Die Frauen, die Segantini sonst malte,
     waren schlichte Bäuerinnen oder Mütter, die ihre Kinder – madonnenhaft, fand James – im Arm hielten. Damit konnte er eindeutig
     weniger anfangen, weder im Leben noch in der Kunst. Aber das Bild »Ave Maria bei der Überfahrt«, das James zu den Madonnenbildern
     zählte, war bei der Weltausstellung in Amsterdam mit der Goldmedaille ausgezeichnet worden und hatte Segantinis internationalen
     Ruhm begründet.
    Wer war dieser Mann, dem man nachsagte, er habe eineschwere Kindheit und Jugend gehabt? Es hieß, er sei sogar in ein Erziehungsheim in Mailand gesteckt worden, nachdem die Polizei
     ihn mehrfach auf der Straße aufgegriffen hatte. Eines immerhin wusste James schon jetzt: Viel hatten er und Segantini nicht
     gemein, nicht nur wegen ihrer Auffassung von den Frauen, sondern allein schon deshalb, weil der Maler eine Großstadt wie Mailand
     verlassen hatte, um sich in die Berge zurückzuziehen, und weil die Berge, die James unendlich öde fand, offensichtlich des
     Malers liebstes Motiv waren.
    Edward hingegen war begeistert von der Idee, Segantini kennenzulernen. Er hatte sich zwar in der letzten Zeit vor allem mit
     Gartenarchitektur und Pflanzen beschäftigt, aber er war seiner Ausbildung nach eigentlich Kunsthistoriker und interessierte
     sich für den Divisionismus, eine neue Richtung der italienischen Malerei, deren bedeutendster Vertreter ganz eindeutig Segantini
     war. Edward machte sich weniger Gedanken darüber, wie Segantini die Frauen malte, als über die aufregende moderne Malweise,
     die Segantini ganz eigenständig entwickelt hatte, und er bewunderte Segantinis Fähigkeit, das glasklare, fast schmerzhaft
     starke Licht der Höhe auf seinen Bildern einzufangen. Aber James war nun mal James, immer von den Frauen bewegt, selbst wenn
     sie nur gemalt waren.
    »Lass uns als Erstes das Dorf erkunden«, schlug Edward vor. »Hast du die Fotoutensilien schon ausgepackt? Das Wetter ist wunderbar.
     Du könntest ein Bild von der Pension   …«
    »Ganz und gar nicht«, entgegnete James.

In Zürich wird eine Kur geplant
    »Betsy. Warum ausgerechnet Betsy?«
    »Weil ich sie mag. Weil ich mit ihr reden kann. Weil sie mich versteht! Weil wir uns miteinander amüsieren   …«
    »Das ist es ja gerade, warum ich dagegen bin. Du bist krank, mein Kind, vergiss das nicht. Und du sollst so schnell wie möglich
     gesund werden und nicht dich ›amüsieren‹.«
    »Aber ich werde schneller gesund, wenn ich mich amüsiere, Mama!« Mathilde sah ihre Mutter herausfordernd an.
    »Du warst im falschen Pensionat. Vielmehr, du hast Umgang mit den falschen Mädchen dort gehabt. Ich habe es deinem Vater tausendmal
     gesagt: Deine Freundinnen sind nicht der richtige Umgang für dich. Aber dein Vater kümmert sich ja nur um seine Geschäfte.«
    Emma Schobinger schüttelte missbilligend den Kopf, aber eher über Mathildes ungehörige Wünsche als über ihren Mann. Franz
     war nicht der Schlechteste, wenn sie ehrlich war, und beugte sich in den meisten Fällen ihrer entschlussfreudigen Art. Nur
     hier und da statuierte er ein Exempel und setzte sich auch in häuslichen Dingen durch. Diese Momente allerdings waren nicht
     vorhersehbar, und man konnte ihnen demzufolge auch nicht vorbeugen, bei aller sorgfältigen Planung nicht. Manchmal half der
     Hinweis, dass sie und nicht er das Geld in die Ehe eingebracht hatte. Aber das Argument zog immer weniger, denn er war – mit
     der Starthilfe der Familie seiner Frau – inzwischen ein sehr erfolgreicher Bauunternehmer. Wenn die Männer eigenes Geld haben,dachte Emma nicht zum ersten Mal, werden sie unberechenbar.
    »Kurz«, fuhr sie fort und reichte Mathilde einen Prospekt, »du gehst ins Neue Stahlbad Surpunt in St. Moritz. Mit meiner Cousine
     Frieda. Dann kommt die Arme auch mal raus. Sie kann sich ja rein gar nichts leisten, obwohl wir sie unterstützen. Denk daran,
     Mathilde: Heiraten ist gut, verwitwet sein grauenvoll. Nun, in die Fabrik muss die gute Frieda nicht, um ihr Geld zu verdienen,
     wie andere Witwen das müssen, und die Kinder können ihr die Behörden auch nicht wegnehmen, die Jungen sind ja schon groß.
     Trotzdem: Frieda nimmt ihren Auftrag ernst, und Betsy amüsiert sich schon allein genug.«
    Nach dieser langen Rede klingelte sie energisch nach dem Mädchen, um Mathilde gar nicht erst zu Wort kommen zu lassen. Aber
     Mathilde, ausgebildet in einer
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