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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens
Autoren: Dörthe Binkert
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sich manche Familienmitglieder, zumal ältere, oft ungefragt berufen fühlten.
    Aber Mathilde mochte sie, und sei es nur, weil sie ihr ähnlich war. Sie würde sie ins Engadin begleiten, hatte aber durchaus
     nicht vor, im Hotel Stahlbad abzusteigen, sondern ganz im Gegenteil möglichst weit vom Kurbetrieb entfernt. Sie hatte nicht
     die geringste Lust, sich inmitten siecher, blutarmer, hysterischer oder unfruchtbarer Menschen wiederzufinden. Ihre ältere
     Schwester Emma würde dafür kein Verständnis haben, und so beschloss Betsy, die Logierfrage lieber mit ihrem Schwager Franz
     zu besprechen, der ein lebenslustiger Mensch war, seine Tochter liebte und zum Schluss immer noch ein Machtwort sprechen konnte.
    Betsy wollte schon seit Längerem einmal im Hotel Kursaal Maloja logieren, das als sensationell galt. Mathilde war ja nicht
     bettlägerig und wäre in einer halben Stunde in den Kuranlagen von St.-Moritz-Bad, wenn sie den Pferdeomnibus nahm. Und während
     Mathilde kurte, würde sie sich in der Umgebung umsehen. Sie war sportlich, liebte die Berge, und es gab genug Bergführer,
     die einen sicher auf verschiedene Gipfel führen konnten. Betsy hatte durchaus etwas für starke Männer übrig.
    Sie hatte jung geheiratet, mit zwanzig, und in einer über zehnjährigen Ehe Zeit gehabt, sowohl die guten als auch die eher
     schwierigen Seiten einer solchen Verbindung zu entdecken. Einige Illusionen waren dabei auf der Strecke geblieben, obwohl
     sie sich im Großen und Ganzen nicht beklagen konnte. Vor drei Jahren war Walter, ihr Mann, ganz überraschend an einem Herzinfarkt
     gestorben, obwohl er nicht einmal beleibt war und es keine Anzeichen gab, dass er seinLeben als besonders belastend empfand. Und so war sie mit nicht einmal zweiundreißig Jahren Witwe geworden.
    Ihre Familie hätte sich eine Neuvermählung gewünscht, Kandidaten gab es genug, denn Betsy war jung, attraktiv und hatte Geld.
     Mit einer neuen Heirat hätte alles seine Ordnung gehabt, und man hätte sich keine Sorgen um die immer mal wieder aus der Bahn
     ausscherende Betsy machen müssen.
    Doch Elisabeth Huber, »geborene Wohlwend«, wie sie gern hinzufügte, weil der Name Huber ihr allzu gewöhnlich erschien, war
     erst einmal damit beschäftigt, die neue Rolle auszuloten, in die sie so plötzlich hineingeraten war.
    Verheiratet war sie gewesen. Jetzt war sie Witwe, und es sprach einiges dafür, es zu bleiben, denn die Freiheit, die dieser
     Zustand ihr schenkte – wenn auch nur, weil sie vermögend war   –, hatte durchaus etwas Beglückendes.
    Ihre Schwester Emma sah diese freiheitlichen Regungen mit Unbehagen.
    »Es gibt schon genug Witwen, Betsy«, pflegte sie zu sagen, »die einsam sind und die keiner mehr will   …«
    »…und die«, ergänzte Betsy dann, »nicht nur keinen Platz mehr in der Gesellschaft haben, sondern auch elend verarmen. Die
     keinerlei Schutz genießen und als Waschfrauen oder Fabrikarbeiterinnen versuchen, ihre Kinder durchzubringen. Wenn man sie
     ihnen nicht wegnimmt und in Waisenhäuser oder Heime steckt, weil solche Mütter sich zu Hause angeblich nicht genug um sie
     kümmern und sie zu reinlichen Mitgliedern der Gesellschaft erziehen können.«
    Betsy hatte ein aufloderndes Temperament, und Emma empfand es als besonders ungemütlich, wenn ihre Schwester sich, wie sie
     es seit Neuestem tat, sozialen oder gar sozialistischen Gedanken hingab.
    Gerade eben hatten sie wieder ein solches Gespräch geführt. Betsy doppelte noch einmal nach.
    »Meine liebe Emmy! Meine Witwenschaft hat einen ganz großen Vorteil: Ich kann selbst über mein Geld verfügen. Walter und ich
     haben eine passable Ehe geführt. Er ist früh gestorben, ich habe getrauert. Aber es ist, wie es ist. Und nun wirst du dich
     wundern: Ich werde ganz und gar nicht noch einmal heiraten und die Verfügungsgewalt über mein Vermögen abgeben. Ganz im Gegenteil!
     Ich werde mich mit meinem Geld dafür einsetzen, dass Witwen hier in Zürich und in unserem Land bessergestellt werden, dass
     sie einen Versicherungsschutz und eine Witwen- und Waisenrente bekommen. Dann nimmt man ihnen nämlich nicht auch noch ihre
     Kinder weg, nachdem sie schon ihren Mann verloren haben und völlig unvorbereitet seine Rolle übernehmen müssen. Als – man
     höre und staune – Ernährerin, Erzieherin und Familienoberhaupt.«
    Betsy hatte sich in leidenschaftliche Rage geredet. Hitzig blitzte sie ihre arme Schwester an, die die Lippen aufeinanderpresste
     und die Hände
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