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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens
Autoren: Dörthe Binkert
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sie einen Hauslehrer bekamen, gleich, was es kostete und ob er sich diesen Luxus leisten konnte.
    »Es leuchtet mir absolut ein, was Sie sagen, Oscar. Sie werden den Höhenkliniken in Davos auf Ihre Weise Konkurrenz machen.
     Ich hoffe, unsere Träume bringen uns einander näher. Wovon sollten wir uns nähren, wenn nicht von unseren Träumen, und wonach
     sollten wir streben, wenn nicht nach ihrer Verwirklichung?«

Eine neue, unbekannte Welt
    »Daraus wird sowieso nichts.« Benedetta setzte den abwehrenden Blick auf, den ihre Tochter so hasste.
    »Und wieso nicht?«, brauste Andrina auf. »Gibt es irgendeinen Vorschlag, der dir einleuchtet? Zu dem du einfach mal sagst:
     Oh, schön, gute Idee!« Wütend schob sie ihre Polenta zur Seite. »Du machst alles immer so schwer, dass es sich anfühlt, als
     hätte man Steine in den Schürzentaschen. Es
ist
eine gute Idee, und wir haben alle was davon.«
    Andrina sah ihren Vater und Luca an. Gian spielte keine Rolle, und das Mädchen sagte sowieso nichts.
    »Vater, sag doch du was. Ich rackere mich hier für euch ab, und keiner merkt was!«
    Der alte Biancotti löffelte ruhig seine Polenta. Er kannte seine Frau, die immer gegen alles war, bei Tag und bei Nacht, und
     er kannte seine ehrgeizige Tochter Andrina.
    »Ich will in Ruhe essen«, sagte er nur. Er trug auch beim Essen seinen Hut. Das gab ihm Sicherheit und Würde.
    Luca ergriff Andrinas Partei.
    »Sie hat recht. Ihre Idee hilft allen. Die Straniera könnte was arbeiten, wenn sie schon hier ist und unser Brot isst. Es
     sieht nicht so aus, als ob sie viel Geld in ihren Kleidern versteckt hätte, außer sie hätte Edelsteine in ihrem Medaillon.«
    Nika erschrak bis ins Herz und bedeckte das Amulett, das unter ihrer Bluse verborgen war, instinktiv mit der Hand. Aber zu
     ihrer Erleichterung hielt sich niemand dabei auf, und Luca fuhr fort: »Wie will sie also weiterkommen? Im Hotel brauchensie Wäscherinnen, sie würde was verdienen, könnte hier etwas abgeben und den Rest sparen, bis sie mit der Postkutsche dahin
     zurückkann, wo sie herkommt, oder sonst wohin.«
    »Und ich«, fiel Andrina ein, »würde einen guten Eindruck bei Signore Robustelli machen, weil ich ihm jemanden vermittle.«
    Sie prostete Luca mit der kalten Milch zu.
    »Wer ist Signore Robustelli?«, fragte Benedetta argwöhnisch.
    »Das ist der stellvertretende Direktor und der Chef vom Hotelpersonal.« Und ich gefalle ihm, dachte Andrina, ohne es auszusprechen
     und ohne bis jetzt den leisesten Beweis dafür zu haben.
    Gian sah zu Nika hinüber. »Willst du das? Im Hotel arbeiten und was verdienen?«
    »Warum sollte sie nicht wollen?«, mischte sich Luca ein, aber Nika blickte nur Gian an und nickte.
    Nein. Sie hatte keine Edelsteine in ihrem Medaillon verborgen. Darin befand sich nur der klein zusammengefaltete Zettel, auf
     dem etwas stand, das sie nicht lesen konnte. Die Zeichen waren ihr fremd geblieben, obwohl die Posthalterin sich endlich hatte
     breitschlagen lassen, Nika bei ihren heimlichen Besuchen anhand der ansonsten nur selten aus der Schublade geholten Bibel
     das Alphabet und rudimentäre Lesekenntnisse beizubringen.
    Die Frau, die jedes Wort mit ihrem Finger auf der Seite festzunageln schien, damit sie sich der einzelnen Buchstaben langsam
     und beharrlich bemächtigen konnte, las selbst nur stockend und wollte den Unterricht lieber früher als später beenden. Doch
     Nika entpuppte sich als begierige Schülerin, die ihre Lehrerin erbarmungslos antrieb und bald überforderte. »Jetzt ist es
     genug!«, sagte die Posthalterin eines Tages ungehalten und klappte die in Schweineleder gebundene Bibel zu. Nika hätte das
     Buch leidenschaftlich gern gehabt, umes von A bis Z lesend zu erobern. Die Geschichten erschienen ihr äußerst spannend. Doch die Bibel verschwand wieder in ihrem
     Schubladengrab, und die Posthalterin schob die Lade mit einem erleichterten Knall zu.
    Im Hinblick auf den Zettel im Medaillon brachte das Alphabet nichts – kein Buchstabe entsprach auch nur annähernd den Zeichen,
     die daraufstanden. Nika war enttäuscht. Offensichtlich konnte sie trotz des Unterrichts noch längst nicht alles lesen. Aber
     in der Wäscherei des Hotels arbeiten, das konnte sie. Sie war schwere Arbeit gewöhnt und hatte oft bei der Wäsche im Dorf
     geholfen. Andrina hatte gemeint, sie könne ruhig weiter im Stall schlafen, und sie hatte recht. Jetzt kam der Sommer mit seinen
     wärmeren Tagen und Nächten. Sie würde Geld zur Seite legen,
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