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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens
Autoren: Dörthe Binkert
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eine
     unbekannte Zukunft.
    Und dann endlich, nachdem sie einen Platz an Deck gefunden,das Tuch auf ihrem Schoß ausgebreitet und ein Stück Käse in den Mund geschoben hatte, begannen ihr die Tränen unaufhaltsam
     über die Wangen zu laufen. Der Fahrtwind kühlte ihr Gesicht, aber es kamen immer neue Tränen. Sie rannen ihren Hals hinab
     und benetzten das Medaillon der Familie Damaskinos, einige tropften auf das Brot, den Käse, und Nika, die sich immer wieder
     mit der Hand über das nasse Gesicht wischte, hätte nicht sagen können, worüber sie am meisten weinte: über den Zufall, der
     das Geheimnis ihrer Herkunft gelüftet hatte, über das Glück, auf dem Weg zu ihrer Familie zu sein, über das Unglück, Segantini
     verloren zu haben? Sie weinte vor Rührung, weil Benedetta wie eine Mutter für sie gesorgt hatte, weinte um alles, selbst um
     den Verdingbauern, um Mulegns. Weinte, weil sie Heimweh nach dem Engadin haben würde und Angst hatte vor dem Land, das sie
     gerade betrat.
     
    Achille Robustellis Hinweise begleiteten Nika verlässlich bis zu der Stelle, wo der Zug Milano-Venezia in das Glitzern der
     Lagune eintauchte und sich auf seinem schmalen Damm der Stadt Venedig näherte. Der Anblick der Stadt überwältigte Nika.
    Obwohl sie über das Wasser gefahren waren, stand der Bahnhof auf festem Boden. Verwirrt machte Nika einige Schritte, als wolle
     sie prüfen, ob der Boden auch nicht schwankte. Denn vor ihr lag wiederum Wasser. Auf dem Canale Grande ein paar Ruderboote,
     voll beladen mit Gemüse und Kartoffelsäcken, um sie herum Menschen, alte, junge, Frauen, Kinder, elegante Touristinnen mit
     Sonnenschirmen, begleitet von Herren in schwarzen Anzügen, nicht anders als in St. Moritz oder im Hotel Kursaal Maloja.
    Nika, von plötzlicher Panik ergriffen, hielt sich die Ohren zu. Es war laut an diesem Ort, eng, Schatten lag über denschmalen Gassen mit den hohen Häusern, die einer Bergschlucht in den Bergen geglichen hätten, wenn nicht Wäscheleinen von
     einer Seite zur anderen gespannt gewesen wären. Tische standen vor den Häusern, mit Essen beladen, die Leute schienen auf
     der Gasse zu leben. Katzen sprangen davon, Hunde hoben müde den Kopf von den Pfoten. Nika hielt sich die Ohren zu, weil sie
     die Augen nicht schließen wollte, voller Angst in diesem fremden Treiben verloren zu gehen. Die Luft war warm und stickig,
     roch faulig und drückte ihr auf das verängstigte Herz.
    »Signorina, passen Sie auf Ihr Gepäck auf!«, rief eine ältere Frau ihr im Vorübergehen zu. »Träumen Sie nicht, sonst erleben
     Sie Ihr blaues Wunder!« Die Frau lachte und war schon vorbei. Nika verstand kaum, was sie sagte, so ganz anders klang das
     Italienisch hier als der Bergeller Dialekt und das Italienisch, das Segantini oder der Graf Primoli sprachen.
    Der Abend senkte sich über Venedig. Aber anders als in den Bergen wurde es nicht still und leerten sich die Straßen nicht.
     Nika wollte sich nur noch verkriechen. Eine magere Katze, einen Fischkopf zwischen den Zähnen, verschwand in einem Hausgang.
     Nika folgte dem Tier mit den Blicken. Das Haus beherbergte eine Pension, und so ging sie der Katze nach und fragte, ob ein
     Zimmer frei sei. Man drückte ihr einen Schlüssel in die Hand und schickte sie die schmale, dunkle Treppe hinauf. Der muffige
     Geruch des Schimmels an den Wänden mischte sich mit dem Geruch von Minestrone. »Numero due«, rief ihr der Mann nach.
     
    Am nächsten Tag, noch immer verwirrt und müde, hatte sie versucht, die Chiesa dei Greci zu finden. Sie musste immer wieder
     nach der Richtung fragen, überquerte unzählige Kanäle, verlief sich in den Gässchen des Gettos, fand wieder zurück zur Strada
     Nuova. Sie hatte das Gefühl, schon seitStunden unterwegs zu sein, die schwere Luft nahm ihr den Atem. Auf einem flachen Lastboot, das an Nika vorbeiglitt, schlängelten
     sich in einem Bottich lebende Aale. Kinder sprangen in das undurchsichtige Grün der Kanäle, deren Grund man nicht einmal ahnen
     konnte, um sich abzukühlen. Das Licht, vom Wasser eingefangen, spiegelte sich zitternd und irrlichternd auf den abgeblätterten
     Hausfassaden. Erschöpft setzte sich Nika auf den Rand eines Brunnens, der auf einem kleinen Platz stand. Heilige und Engel
     schauten von einer Kirchenfassade auf sie herab, weiß, mit goldenen Heiligenscheinen. Eine junge Frau blieb vor ihr stehen
     und fragte, ob sie Hilfe brauche.
    »Ja«, nickte Nika schwach. »Ich suche die Piazza San
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