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Bildnis eines Mädchens

Titel: Bildnis eines Mädchens
Autoren: Dörthe Binkert
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lief sie weiter, überquerte den Canale Grande,
     erkannte, dass sie in diesem Teil der Stadt noch nicht gewesen war. Aber auch hier hatte das Labyrinth keinEnde, flirrte das Licht auf den Kanälen, schob sich Brücke vor Brücke.
    Endlich stand sie auf einem Platz, der von der Backsteinfassade einer gewaltigen Kirche beherrscht wurde. Die Flügel der Kirchentür
     standen offen. Sie trat in die sanfte Dämmerung des Kirchenschiffes und ließ sich auf eine der Bänke sinken. Vorne am Altar
     las der Priester die Abendmesse. Nikas Kopf kippte müde nach vorn, das Gemurmel der Gläubigen umhüllte sie.
    Dann leerte sich die Kirche, der letzte Messdiener mit seinem weißen Gewand verschwand in der Sakristei, nur ein schwacher
     Duft von Weihrauch zog wie ein zarter Abendnebel durch das Kirchenschiff.
    Nika schleppte sich zu einer Seitenkapelle. Kerzen, die die Bitten der Menschen zum Himmel hinauftragen sollten, warfen ihr
     flackerndes Licht auf eine junge Madonna, die vom Altarbild auf sie herunterblickte. Sie hatte rotblondes Haar, wie Nika.
     
    Als am nächsten Morgen der Küster die Türe der Basilica dei Frari aufschloss, um die alten, von Schlaflosigkeit geplagten
     Männer und Frauen zur Frühmesse einzulassen, erwachte Nika und schreckte aus der Kirchenbank hoch. Sie brauchte einige Zeit,
     bis ihr bewusst wurde, wo sie war. Das Bild, das sie am Vorabend betrachtet hatte, lag stumm im Schatten.
    Ihr Gesicht glühte von Fieber, Durst peinigte sie, sie brauchte Hilfe, einen Arzt. Sie musste Fabrizio finden   … Ja, sie wollte zu Fabrizio. Sie hatte seine Adresse doch mitgenommen, als sie am Morgen die Pension verlassen hatte, als
     beschütze sie das in der fremden Stadt. Nika taumelte dem Ausgang zu. Das Tageslicht blendete sie so, dass sie die Augen schloss
     und blind ein paar Schritte auf den Campo hinausmachte. Aus dem gegenüberliegenden Café sah sie die Gestalt eines jungenMannes auf sich zukommen. Dieses Gesicht hatte sie schon gesehen, es war ein freundliches Gesicht, aber jetzt schaute es überrascht,
     erschrocken.
    »Aber Signorina«, rief der junge Mann mit den braunen Augen, »dass ich Sie so schnell wiedertreffe!«
    Doch Nika hörte ihn nicht. Sie war ohnmächtig geworden.
     
    Von den zwei Wochen, die auf diesen Morgen folgten, wusste Nika später fast gar nichts mehr. Durch das Fieber drangen nur
     Fetzen von Wahrnehmungen, eine Tasse, die ihr an die Lippen gehalten wurde, das kühle Leinen, wenn jemand die Bettwäsche wechselte.
     Immer wieder das Gesicht mit den braunen Augen, das sich besorgt über sie beugte. Irgendwann drangen die Worte zu ihr durch:
     »Ich bin Fabrizio   … Fabrizio   … Erinnerst du dich?«
    Es dauerte Tage, bis sie auf seine Frage nickte: »Wir sind uns im Hotel Kursaal Maloja begegnet«, sagte er. »Ich war mit dem
     Grafen Primoli dort   …«
    Dann wurde ihr Geist klarer, sie begann wieder zu essen, nachdem sie lange nur Flüssigkeit zu sich genommen hatte. Tagsüber
     sah sie Fabrizio nicht. Eine Dienerin, die Paolina hieß, versorgte sie in dieser Zeit. Aber meist lag Nika einfach mit geschlossenen
     Augen da.
    Fabrizio kam und ging. Kam wieder. Das war gut. Sie lächelte, wenn er sich an ihr Bett setzte, schloss dann wieder die Augen.
     Er las, ordnete Papiere, korrigierte Texte, ging irgendwann schlafen. Einmal streckte sie die Hand nach ihm aus, als er leise
     das Zimmer verlassen wollte. Er sah die Geste, kam zurück, nahm ihre ausgestreckte Hand, strich ihr mit der anderen über die
     Stirn. Sie zog ihn näher zu sich, flüsterte: »Fabrizio?«
    »Ja«, sagte er.
    »Ein schöner Name«, murmelte sie und drehte das Gesicht zufrieden zur Seite.
    Ein anderes Mal erwachte sie und wünschte, er läge neben ihr. Aber wie sollte sie ihm das sagen.
    Sie fragte nicht einmal nach der Pension, in der sie abgestiegen war. Erst als sie eines Tages das Bündel mit ihren wenigen
     Sachen in einer Ecke des Zimmers sah, besann sie sich darauf, dass sie dort gewesen war. Jetzt fing sie langsam an zu fragen.
    »Die Pension   …«
    »Du hattest die Adresse in deiner Tasche. Wahrscheinlich weil du Angst hattest, den Ort nicht wiederzufinden. Wir haben deine
     Sachen dort abholen lassen.«
    »Wir   …?«
    Fabrizio lachte. »Wir, das sind meine Eltern und ich. Du bist hier bei mir zu Hause. Meine Adresse hattest du auch dabei,
     aber bevor du hierherkommen konntest, habe ich dich gefunden.«
    Nika schüttelte ungläubig den Kopf. »Aber ich war in einer Kirche  
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