Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Beth

Beth

Titel: Beth
Autoren: Vampira VA
Vom Netzwerk:
hatte seinem Leben neuen Sinn gegeben.
    »Natan, mein Sohn«, murmelte er und streckte die Hand nach dem Schläfer aus, der in dem durchsichtigen, mit der Decke verknüpften Gespinst zusammengerollt wie in einem Nest lag. Oder wie einst im Leib seiner leiblichen Mutter, dachte Raoul. Er hatte den Schlafenden schon gekannt, als dieser noch ein kleines Kind gewesen war. Inzwischen waren er und seinesgleichen zu Mann oder Frau gereift.
    Besondere Männer und Frauen.
    Die nicht aßen noch tranken.
    Niemals.
    Woher sie dennoch die Kraft zogen, um zu gedeihen, wußte auch Raoul nicht zu sagen. Und obwohl sie sich so prächtig entwickelt hatten, war er oft versucht gewesen, sie aus ihren Kokons herauszuschälen und hinauf in den Garten zu schaffen, ihnen ein klein wenig frische Luft und Sonne zu gönnen ...
    Gewagt hatte er es letztendlich nicht. Zu groß war die Angst gewesen, vielleicht zu zerstören, was im Entstehen begriffen war. Zu groß auch die Angst vor Strafe.
    Bleich, fast weiß war die Haut der erwachsen gewordenen Kinder, die das Licht eines hellen Tages nicht kannten und wohl deshalb auch nicht vermißten. Kein Haar sproß an ihren Körpern.
    »Welche Farbe ihre Augen wohl haben mögen?« sinnierte Marie manches Mal - Marie, deren eigene Augen vom Salz zerfressen waren und die außerhalb des Hauses weder leben noch hätte sehen können. Im Haus war vieles anders als draußen.
    Raoul sprach nicht darüber, aber er selbst fürchtete den Moment beinahe, da sich die Lider eines Tages heben würden, weil die Schläfer erwachten. Er fürchtete ihn, weil er sich vorstellte, den Blick aus vielleicht ebenfalls weißen Augen nicht zu ertragen ...
    Aber der Tag des Erwachens war fern. Manchmal war Raoul felsenfest überzeugt, ihn nicht mehr zu erleben. Im Gegensatz zu Ma-rie war er alt geworden. Einunddreißig Jahre war es her, daß er in die Dienste des Herrn getreten war, dem dieses Haus gehörte. Seit ebenso langer Zeit hatte er keine Uhr mehr repariert und seine Werkstatt nicht mehr aufgemacht. Er hatte sie verkauft und lebte seither vom Erlös. Sein neues Zuhause war hier. Einmal alle vierzehn Tage erledigte er seine Einkäufe. Ein seltsamer Kauz, hinter dessen Rücken getuschelt wurde. Aber das focht ihn nicht an. Nicht mehr. Er hatte ohnehin keine Wahl. Aus dem Vertrag, den er damals geschlossen hatte, würde er nicht mehr herauskommen, selbst wenn er dies gewollt hätte .
    Würde ich denn wollen? Raoul ballte kurz die Hand, die er nach dem Kokon ausgestreckt hatte, zur Faust. Als er sich dabei ertappte, öffnete er sie schnell wieder.
    Kreatürliche Angst brachte sein Herz zum Rasen. Eine vertraute, schreckliche Angst, die sogleich die Erinnerung an jene Nacht emporspülte, als er dem Dieb gefolgt war, der Kinderleichen von den Friedhöfen der Stadt gestohlen hatte. Tote Kinder, deren kleine Herzen inzwischen groß geworden waren und wieder zu schlagen begonnen hatten.
    Wie kunstvolle Uhren.
    »Natan, mein Sohn ...«
    Er hörte sich selbst dabei zu, wie er die Worte wiederholte. Der Klang seiner Stimme schien ihm Halt in einem Anflug von Desorientierung zu geben.
    Er zog seine Hand zurück, ohne das Gespinst berührt zu haben, den Kokon, der aussah, als bestünden seine Fäden aus nichts anderem als einer besonderen Sorte Licht. So besonders wie die Kinder, die sie eingesponnen hatten .
    Raoul verließ den Keller über die breite Treppe. Oben wartete Marie.
    »Du hast kaum noch zu essen«, sagte sie. »Es wird Zeit, daß du deine Besorgungen erledigst.«
    Wie sehr sie sich kümmerte.
    Was ein bißchen Tod doch ausmachen kann, dachte Raoul abstrakt. Er wußte noch genau, warum er sie damals umgebracht hatte - er hatte es einfach nicht mehr ertragen, nach seinem Unfall tagein, tagaus als Krüppel von ihr verspottet zu werden 1 .
    Sacht streichelte er über ihr sprödes Gesicht. Dabei bemühte er sich, sie so zu sehen, wie sie einmal gewesen war, bevor das Salz sie in Mitleidenschaft gezogen hatte.
    »Ich bleibe nicht lange«, sagte er.
    »Laß dir ruhig Zeit«, erwiderte sie ebenso sanft. »Und wenn du zurückkehrst, erzähl mir, was sich alles getan hat - draußen.«
    Er bewunderte sie, weil es sie immer noch interessierte, was in der Welt vorging, die sie nicht mehr betreten durfte. Weil es nicht mehr ihre Welt war. Weil ein Schritt über die Schwelle des Hauses das betrogene Fleisch daran gemahnt hätte, daß es kein Anrecht mehr auf Leben besaß .
    Er verließ die gemeinsame Zuflucht. Den Hort der toten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher