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Beth

Beth

Titel: Beth
Autoren: Vampira VA
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Kinder.
    Man schrieb den 2. September des Jahres, und ein warmer Wind trug Salzgeruch vom Meer herüber, als Raoul Steen durch den verwilderten Garten auf die Straße hinaus trat. Das windschiefe Haus, aus dem er gekommen war, lag am Ende einer Sackgasse.
    Ganz in der Nähe klapperte ein von lachenden, schreienden Kindern gezogener Handwagen über das holprige Pflaster. Als die Lumpenkinder den Alten mit der Krücke entdeckten, hielten sie kurz inne, als müßten sie überlegen, ob sie etwas von ihm zu fürchten hatten. Offenbar gelangten sie zum gegenteiligen Schluß, denn plötzlich plärrten sie boshafte Verhöhnungen, um anschließend, so schnell ihre gesunden Beine sie trugen, in einem Seitenweg zu verschwinden.
    Raoul blieb gelassen. Er humpelte zum nächsten Krämerladen. Die Krücke, auf die er sich stützte, brauchte er nur hier draußen. Drin-nen war er kein Krüppel - so wenig wie Marie dort tot war.
    Der Ladenbesitzer hatte seine Kundschaft kommen sehen und hielt die Tür auf. Er kannte Raoul noch aus der Zeit, als dieser sich als Uhrmacher verdingt hatte. Und es war schon Teil ihres Begrüßungsrituals, daß er grinsend zur Wand hinter der Verkaufstheke zeigte, wo eine Uhr mit schweren Pendeln befestigt war, und lamentierte: »Sie ist schon wieder kaputt. Könnten Sie nicht doch mal danach sehen ...?«
    Raoul verneinte wie jedesmal. Er tat es freundlich, aber bestimmt. »Meine Hände zittern. Ich fasse keine Uhr mehr an. Ich hab's dem Herrn geschworen.«
    Welchem Herrn er meinte, verschwieg er wie üblich und verließ sich darauf, daß der Krämer ihn auch diesmal mißverstand.
    Es waren bescheidene Dinge, die er einkaufte, fast ausschließlich Lebensmittel, die zur Not auch ein paar Tage länger hielten. Je älter er wurde, desto schwerer tat er sich damit, das Haus zu verlassen, das auch ihn beschützte. Kein Mensch hatte sich seit dem Fortgang des Herrn dorthin verirrt. Völlige Ruhe umgab das kleine Anwesen.
    Manchmal dachte Raoul, daß er dem eigenen Altern vielleicht ein Schnippchen hätte schlagen können, wenn er noch mehr Vorräte gehamstert und das Haus noch seltener verlassen hätte. Es kam ihm nämlich vor, als bekäme selbst die Zeit den Zutritt in das Haus des Herrn verwehrt .
    Aber das waren Ideen, die ihm immer nur im Hirn herumspukten, wenn er seine Einkäufe erledigte. Er war nicht wirklich unzufrieden mit seinem Los.
    »Gibt's was Neues?« fragte er den Krämer, als er ihm die Münzen auf den Tresen zählte.
    Der dickliche Mann mit dem schütteren Haar wollte erst den Kopf schütteln, schien sich dann aber zu erinnern, wie lange er seinen Stammkunden nicht zu Gesicht bekommen hatte. »Die Engländer, sagt man, haben ihre Flotte gegen die Holländer losgeschickt. Aber eine Schlacht ist noch nicht entbrannt.«
    Raoul nickte. Die Fehde der beiden Seemächte hatte schon beinahe Tradition. Ihn persönlich belastete sie wenig. Auf Perpignan würde ein solcher Krieg keinen Einfluß haben.
    »Was macht die Pest?« fragte er ruhig.
    Kurz flackerte Angst in den wäßrigen Augen des Ladenbesitzers. Dann sagte er mit schwankender Stimme: »Wieder einer - wie letzten Monat ... Wie jeden Monat ...«
    Raoul nickte. Seit Jahren ging das so, und niemand wußte es zu erklären: Zwölf Pestopfer in jedem Jahr, keines mehr und keines weniger, und immer traf es Menschen, die besonders gesund und kräftig gewirkt hatten. Wenn es eine Epidemie war, dann eine überaus ab -sonderliche, die niemand in den Griff bekam und von der die Bewohner der Stadt nur noch unterschwellig beunruhigt wurden. Es gab zu viele andere Krankheiten, an denen mehr Menschen starben. Um in Panik zu verfallen, gab es keinen Grund .
    Raoul erzitterte unmerklich.
    Wirklich nicht?
    Nicht für mich jedenfalls, dachte er - und glaubte daran.
    Unwillkürlich schweiften seine Gedanken zum Erwecker der toten Kinder, der damals fortgegangen war und Raoul hatte wissen lassen, daß er nicht vorhatte, je wiederzukehren.
    »Meine Kinder werden zu mir finden, wenn es an der Zeit ist«, hatte er seinem Diener zum Abschied erklärt.
    Wann das sein würde, hatte er nicht offenbart, aber Raoul in der Meinung bestärkt, es könnte höchstens ein paar Jahre dauern.
    Nun waren Jahrzehnte daraus geworden, und es gab Tage, an denen Raoul bezweifelte, daß die Schläfer überhaupt jemals erwachen würden.
    Vielleicht wurden sie ja auch vergessen? Vielleicht altern sie zu Tode, ohne ein einziges Mal die Augen aufgeschlagen zu haben und sich ihres
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