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Sturmtief

Titel: Sturmtief
Autoren: H Nygaard
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EINS
    In der Früh hatte es geregnet, und den Vormittag über
lag noch die Feuchtigkeit über der Stadt. Das rote, kleinformatige Pflaster
schimmerte im matten Licht eines grauen Tages. Doch die Herbstsonne hatte sich
immer mehr durchgesetzt, die Wolkendecke verdrängt und Platz für einen blauen
Himmel geschaffen. Das hatte nicht nur die Einheimischen ins Freie gelockt,
sondern auch die Besucher, die die Innenstadt und die Plätze rund um den
Stadthafen bevölkerten.
    Robert Havenstein erging es wie vielen Menschen, denen
die heimische Umgebung so vertraut scheint, dass sie die Schönheiten ihrer
Heimat gar nicht mehr wahrnehmen. Trotzdem hatte er nicht von seiner
Geburtsstadt lassen können. Obwohl ihn sein Beruf, aber auch die ihn stets
treibende Neugierde nicht nur in die Metropolen, sondern auch in die
entferntesten Winkel der Welt geführt hatte, zog es ihn immer wieder hierher
zurück. Seine Seele verlangte nach dem Plätschern der Ostsee, wenn die sanften
Wellen auf den Strand vor seiner Haustür aufliefen. Das Mare Balticum konnte
sich auch von einer wilden, ungemütlichen Seite zeigen und wurde als
vermeintliches Binnengewässer oft unterschätzt, doch Havenstein war mit dem
Wasser vertraut.
    Von seinem Balkon aus genoss er den Blick über die
Eckernförder Bucht, den Marinehafen zur linken Hand, in dem die deutsche
U-Boot-Flotte beheimatet war, den weißen Strand aus feinstem Quarzsand und den
Vorhafen direkt vor der Haustür, in dem sich an den drei Stegen eine schier
unüberschaubare Zahl von Segelbooten und -yachten drängte.
    Heute hatte Havenstein dem Idyll keine Aufmerksamkeit
geschenkt. Er hatte die halbe Nacht durchgearbeitet, bis ihn die Müdigkeit
übermannt hatte. Es war ein unruhiger Schlaf gewesen. Immer wieder war er
hochgeschreckt, weil sein rastloser Geist sich auch im Ruhen nicht von dem
Thema lösen konnte, mit dem er sich beschäftigte.
    Ein kurzer Gang durch das Bad, ein hastiges Frühstück,
und dann hatte sich Havenstein wieder an sein Notebook gesetzt und
weitergearbeitet. Als er zufrieden ein letztes Mal auf das Symbol »Speichern«
drückte, war die große Kaffeekanne leer, und der Aschenbecher auf seinem
Arbeitsplatz lief über.
    Havenstein reckte sich, zog den Memory-Stick aus
seinem Notebook, legte ihn auf den Schreibtisch, stand auf und zog sich an.
    Kurz darauf verließ er die Wohnung. Er hatte keinen
Blick für die Aussicht, die sich ihm bot, für die Schiffe im Hafen, in dessen
durch eine Mole geschützten ruhigen Gewässern es von Feuerquallen wimmelte.
Havenstein beachtete die Touristen nicht, die im Müßiggang vom Stadthafen aus
am Strandweg entlangschlenderten oder über den Bohlenweg zum rot-weiß
gestreiften Leuchtturm spazierten, der die Marina begrenzte. Im Erdgeschoss
seines Hauses residierten ein Mietservice und ein Schiffsbüro, dessen Fenster
mit dem Modell eines Segelvollschiffs immer wieder neugierige Blicke von
Passanten anzog. Vor der benachbarten Eisdiele saß eine Handvoll junger Leute
in den Strandkörben, die der Besitzer als originelle Sitzgelegenheit für seine
Gäste im Freien aufgestellt hatte.
    Havenstein wandte sich nach rechts. Gegenüber lag der
Pavillon des Ostsee-Info-Centers mit dem Café, das zu dieser Stunde gut besucht
war. Zu den Besuchern gehörte auch der Mann mit dem südländischen Aussehen, der
sich bei Havensteins Erscheinen rasch erhob und seinen Latte macchiato halb
ausgetrunken zurückließ. Er griff in seine Sakkotasche, fingerte einen
Geldschein hervor und warf ihn achtlos auf den Tisch.
    »He, Sie«, rief ihm die junge Bedienung hinterher, als
er raschen Schritts zur Promenade ging. »Ihr Latte …«
    Stumm zeigte er auf den Platz, an dem er gesessen
hatte. Die junge Frau legte den kurzen Weg zurück, sah den Zehneuroschein,
schaute dem Gast hinterher und steckte das Geld mit einem Achselzucken ein.
    Havenstein warf einen Blick auf das hölzerne
Piratenschiff, das auf dem Sandstrand lag und Kindern als willkommenes
Spielobjekt diente. Jetzt stand eine Frau mit einem kleinen Rucksack, auf dem
Teddybären aufgedruckt waren, am Ruder. Sie hielt sich ein rotes Halstuch vor
Mund und Nase und lachte in das Kameraobjektiv, das ihr im Sand stehender
Begleiter auf sie gerichtet hatte.
    Für einen winzigen Moment entlockte diese Szene
Havenstein ein Lächeln.
    Automatisch steckte er sich eine neue Zigarette an.
Dann nickte er einer älteren Frau zu, die auf einem Balkon des Nachbarhauses
stand und den vorbeipromenierenden Menschen
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