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Bestiarium

Bestiarium

Titel: Bestiarium
Autoren: Michael Tobias
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bestand doch die Gefahr, unabsichtlich auf lebende Wesen und Organismen zu treten und sie so zu töten: Moose, Flechten, Pilze und eine Menge unsichtbarer Dinge, die die Menschen nur selten zu würdigen wussten.
    In diesem Moment hörte er, wie das elektrische Tor aufschwang und danach ein Wagen vor dem Gebäude vorfuhr. Simon machte sich bereit, sich zu verstecken, und überprüfte seine Waffe. Er hatte während des Flugs nach Genf genügend Zeit gehabt, sich zu überlegen, wo er sich dieser unvermeidbaren Konfrontation stellen sollte. Aber er machte gar nicht erst den Versuch, so zu tun, als wüsste er irgendwelche Antworten.
    Martin betrat als Erster den langen Hauptkorridor und rief den Namen seines Onkels. Margaret befand sich dicht hinter ihm und staunte nicht wenig über die Größe und die Weitläufigkeit des Wohnsitzes.
    »Es ist überwältigend«, stellte sie fest. »Wo ist dieser Memling? Er wird uns eine Menge verraten.«
    »James!«, rief Martin. Sie betraten die Bibliothek.
    »Oh nein!«, hörte Margaret ihren Mann stöhnen. Und dann verschlug der Schock auch ihr den Atem.
    Martin kniete neben seinem Onkel. James' linke Hand umklammerte noch immer das kleine Oval, die Medaille des heiligen Benedikt, dessen Beistand James in den letzten Sekunden seines Lebens genützt hatte, obgleich dieser Trost sich nicht in einem Ausdruck der Glückseligkeit manifestierte. Da war nur der leere, starre Blick eines Menschen, der ins Jenseits übergewechselt war. Auf dem Fußboden neben seiner rechten Hand lag eine Waffe, mit der er vermutlich seinen Angreifer getötet hatte, jedoch nicht rechtzeitig genug, um sein eigenes Leben zu retten.
    Margaret war starr vor Angst, schaute sich in dem Raum um, gewahrte die Ritterrüstung in einer Nische und all die anderen mittelalterlichen Utensilien. Und dann fiel ihr Blick auf die andere Leiche.
    »Martin, wer ist das?«
    »Ich habe keine Ahnung, aber ich könnte mir denken, dass er der Mörder ist. Hier waren Wilderer. James wusste, dass sie es auf ihn abgesehen hatten.«
    »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte sie ohne den für sie so typischen Elan.
    »Wir rufen die Polizei.«
    »Die ist bereits da, Monsieur Olivier«, sagte Simon und kam aus einem Korridor in die Bibliothek.

 
    KAPITEL 52
     
    I ch bin Ihnen nach Wien gefolgt. Ich weiß nicht, was Sie dort wollten, und ich werde Sie nie danach fragen«, begann Simon. »Ich weiß, dass all dies hier Ihnen gehört. Aber Sie können beruhigt sein, ich bin gekommen, um meinen Einfluss geltend zu machen ...« Er beendete den Satz nicht. »Das heißt, dass ich nicht die Absicht habe, jemals zu enthüllen, was hier wirklich vorgefallen ist. Das würde mir sowieso niemand glauben.«
    Während Simon redete, wanderte sein Blick von den beiden Toten auf dem Fußboden zum Spiegel, in dem eine erstaunliche Versammlung von Lebewesen erschien. Sie kamen aus dem Wald auf die Mauer zu, überstiegen sie vereinzelt und verteilten sich auf den grasbewachsenen Flächen, die von den Franzosen gerne als »Englischer Rasen« bezeichnet wurden.
    Simon wandte sich um und betrachtete diesen Karneval der Tiere direkt.
    Dickhäuter, seltsame Säugetiere, riesige Reptilien und bunt schillernde Vögel, die seit undenklichen Zeiten des Menschen Auge erfreuten. Seit seiner Kindheit hatte er von einem solchen Moment geträumt. Er war trotz des frühzeitigen Austritts seines Großvaters aus dem Kloster ein tief religiöser Christ, der sich nach einer Bestätigung der Richtigkeit seines Glaubens sehnte. Was er nun vor sich sah, war die Schöpfung, und es war nun an ihm, entsprechend zu handeln. Er würde tun, was in seinen Kräften stand. Und er würde sich auf der Erde nie wieder einsam fühlen.
    Simon begriff nun, dass die Wilderer zur Beute geworden waren. Die Bewohner des Anwesens hatten ihr Eigentum geschützt, wie sie es wahrscheinlich schon immer getan hatten. Simon durchschaute das drohende Chaos und begriff einen Punkt: Was von ihm jetzt gefordert wurde, war die absolute Ehrlichkeit gegenüber sich selbst, nicht das, wofür er als polizeilicher Tierschützer ausgebildet worden war, nicht nur das, was ihm am Herzen lag. Sondern das, was er seit seiner frühesten Jugend tief in seinem Innern war.
    »Mein Onkel informierte mich, dass aus der direkten Nachbarschaft große Schwierigkeiten zu erwarten seien«, sagte Martin, während er sich leicht schwankend aufrichtete, wobei Margaret ihn stützte. »Es ging um ein gigantisches Immobiliengeschäft, dass
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